Nietzsches Hass auf die „Idioten“

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Das neue Kapitel:
Mancher behauptet von sich, er sei ein grosser Denker, dabei hat er doch nur ein grosses Maul.
Unter diesen Maulhelden ist Nietzsche zweifellos der Grösste.
„Man muß rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten. Man muß geübt sein, auf Bergen zu leben – das erbärmliche Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehn. Man muß gleichgültig geworden sein, man muß nie fragen, ob die Wahrheit nützt, ob sie einem Verhängnis wird… Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen niemand heute den Mut hat; der Mut zum Verbotenen; die Vorherbestimmung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten. Neue Ohren für neue Musik. Neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene Wahrheiten. Und der Wille zur Ökonomie großen Stils: seine Kraft, seine Begeisterung beisammenbehalten… Die Ehrfurcht vor sich; die Liebe zu sich; die unbedingte Freiheit gegen sich… Wohlan! Das allein sind meine Leser, meine rechten Leser, meine vorherbestimmten Leser: was liegt am Rest? – Der Rest ist bloß die Menschheit. – Man muß der Menschheit überlegen sein durch Kraft, durch Höhe der Seele – durch Verachtung…“
http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/Der+Antichrist/Vorwort

Welche Grossmäuligkeit und Schlitzohrigkeit zugleich. Es ist der alte Trick der betrügerischen Schneider vom dem uns Andersen in „Des Kaisers neue Kleider“ erzählt: Wenn ihr mich versteht seid ihr besonders intelligent. Dieser Trick zieht immer, denn die Zahl der Dummköpfe die zur „geistigen Elite“ gezählt werden wollen, obwohl es ihnen an allem mangelt, vor allem an Verstand und Vernunft, ist speziell in Deutschland sehr gross.
Aber gerade wenn man kein Kindskopf ist, muss man eigentlich sehen, dass der Kaiser splitterfasernackt ist.
„2
Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.
Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt.
Was ist Glück? – Das Gefühl davon, daß die Macht wächst – daß ein Widerstand überwunden wird.
Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt [1166] sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend).
Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.
Was ist schädlicher als irgendein Laster? – Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratnen und Schwachen – das Christentum…“
http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche+Friedrich/Der+Antichrist/1-10
Dieses Geschwätz ist hochgradig gefährlich für jeden und jede die wir einmal Momente der Schwäche erleben können. „Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen….Und man soll ihnen noch dazu helfen.“
Als Idiot muss man wissen was das heisst. Und niemand kann sagen, Hitler habe Nietzsche missverstanden, als er folgenden „Führerbefehl“ nachträglich auf den 1.9.1939 datierte:
„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“
http://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4
Es ist genau das, was Nietzsche fordert:
„Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.“
Das er selbst in Wirklichkeit ein „Schwacher und Mißratener“ war, macht dabei nichts besser.
Nun hört man oft und oft zurecht, dass Philosphen nicht für Verbrechen, die aus falschen Gedanken resultieren, verantwortlich gemacht werden dürfen.
Hegel, beispielsweise, hat mit seiner „dialektischen Logik“ den Boden bereitet für Stalinsche Willkür.
Seiner Methode der These-Antithese-Synthese wohnt von Haus aus Willkür und Beliebigkeit inne. D.h. seine Methode die Beschränktheit blossen logischen Denkens zu überwinden, ersetzte die Beschränktheit durch Beliebigkeit.
Die Menschen die Opfer eines „dialektischen“ Rechtssystems wurden, bekamen diese Beliebigkeit zu spüren.
Allerdings hat Hegel gross gedacht und gross geirrt.
Und er hat nie zum Massenmord aufgerufen oder ihn gebilligt.
Andere haben seine Denkfehler missbraucht und damit Massenmorde gerechtfertigt.
Nietzsche kann man nicht missverstehen. Sein Mordaufruf ist umiss­verständlich. Und die Euthanasie-Politik der Nazis ist daraus eine zwingende logische Konsequenz.
Nun goutieren viele ja Nietzsche und den „Antichristen“ wegen seiner Religionskritik: Nietzsche, der Tabubrecher, Nietzsche, der endlich sagt, was schon lange mal gesagt werden musste !
Nur was sagt er denn ?
Er wiederholt die einmal gefundene Formel wonach Mitleid angeblich Schwäche sein soll bis zum Erbrechen und übergiesst das ganze dann mit einer stinkenden Jauche aus Antisemitismus, den er aus den allertrübsten Quellen seiner Zeit schöpft.
Überhaupt beweist sein Räsonieren z.B. über den Budhismus vor allem eins:
Den Mangel jeder ernst zu nehmenden Kenntnis.
Oder was soll man sonst zu folgender Sentenz sagen:
„Die Voraussetzung für den Buddhismus ist ein sehr mildes Klima..“ Wo ? In Sri Lanka oder eher im tibetischen Hochland ?
Das Verdikt, dass er über das Christentum spricht, bekommt Epikur und bekommen die Epikureer genauso ab.
Alles was nicht den Maximen unter Absatz 2 folgt ist schlecht. Alles was mitleiden kennt, wird verdammt.
Absatz 2 ist gewissermaßen das Nietzsche Glaubensbekenntnis, sein „Vater unser..“.
Es dies ein Bekenntnis der Dummheit und zur Dummheit, denn die Fähigkeit zum Mitleiden ist die Grundlage jeder Intelligenz sozialer Tiere.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass Nietzsche alles was wir heute über Spiegelneuronen wissen, zu seiner Zeit nicht wissen konnte, spricht trotzdem die tiefste Nacht der Unkenntnis aus dieser Sentenz:
„Was ist schädlicher als irgendein Laster? – Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratnen und Schwachen – das Christentum…“.
Dass er „Mitleiden“ so umstandslos mit Christentum gleichsetzt, ehrt die Christen. Ob sie dieses Lob immer verdient haben, sei dahin gestellt.
Fakt ist: Unsere Fähigkeit in die Haut unserer Mitmenschen zu schlüpfen zu können, ist die unentbehrliche Basis jeglicher Intelligenz. Wer diese Fähigkeit in sich tötet, tötet seine Vernunft und seinen Verstand.
Weil das so ist, deswegen ist Glück auch nicht „das Gefühl davon, daß die Macht wächst“. Glück ist, wenn ich liebe und geliebt werde. Und Liebe ist, wenn ich meine Freuden und meine Freundlichkeit mit Anderen teilen kann und sie sich dadurch vermehren.
Überhaupt die Macht, sie ist ihm sein Ein und Alles:
„Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.“
Nietzsche vergisst, dass die Macht des Anderen über mich meine Ohnmacht ist.
Natürlich träumt er stattdessen von der Ohnmacht der Anderen.
Er hätte aber besser, statt zu träumen und Kant einen „Idioten“ zu nennen, dessen kategorischen Imperativ studiert. Vielleicht hätte er dann begriffen, dass in einer Gesellschaft, in der alle die Macht für sich und die Ohnmacht der Anderen wollen, am Schluss alle gleich ohnmächtig sind.
Wer selber frei sein und bleiben will, darf Sklaverei nicht dulden.
Wer Sklaverei lobpreist, wie unser angeblich grosser Denker, schmiedet an seinen eigenen Ketten.
So hasst Nietzsche also den Idioten Kant und den Idioten Jesus, hasst Epikur und den „Bauer“ Luther, wir aber, Idioten von Geburt an, fühlen uns wohl in dieser ehrenwerten Gesellschaft und sind stolz darauf Idioten geheissen zu werden.

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Die Hölle sind nicht die anderen

Die hundert Seiten sind nun voll. Aber die Version 1.0 rückt eher in die Ferne. Deswegen habe ich mich zu einer Änderung bei der Nummierung entschlossen: Die nächste Version heisst nicht F0.5 sondern F0.41.
D.h. es dauert noch bis halb fertig bin.

Hier kann man die neueste Version laden:
Myschkin_f0.41

Und hier eines der neuen Kapitel:

Die Hölle sind nicht die anderen

Blosses Existieren ist weniger als Leben. Das ist kein ontologisches Problem, sondern ein immens lebenspraktisches.
Als wir jung waren, waren wir neugierig und so wollten wir wissen, was uns unsere Lehrer und Erzieher verschwiegen hatten.
Auf diese Weise wurde ich zum Mitorganisator einer Veranstaltung mit einem ehemaligen kommunistischen Dachau-Häftling. Dieser, ein auf sein Können stolzer, selbstbewußter Metallarbeiter, wie sie vor allem für Mannheim so typisch sind, erzählte sehr spröde und sehr genau, ohne allzu viel Pathos, mehr so wie man ein Gewinde dreht. Aber gerade deswegen hat sich mir manches eingebrannt. Am meisten aber das folgende:
Ein ehemaliger Reichtagsabgeordneter der DVP, ein führender Mann seiner Partei, der auch von seiner Körpergrösse groß und beindruckend war, war von der SA und ihrem Ludwigshafener Kommandanten Eicke in Dachau als Hund abgerichtet worden. Er wurde an eine Kette gelegt, bekam einen Freßnapf und eine Hundehütte und wenn die SA vorbei kam, musste er bellen.
Jener Eicke war in den turbulenten 20iger Jahren in Ludwigshafen erst Bombenleger, dann Werkschützer bei der IG und zuletzt innerparteilicher Konkurrent des Pfälzer Gauleiters Bürckel gewesen. Bürckel schaffte es ihn nach Nürnberg in eine Irrenanstalt zu verfrachten und somit aus dem Weg zu räumen. Aus dieser Irrenanstalt wurde Eicke von Himmler befreit. Danach wurde er der Kommandant des Lagers Dachau und der eigentliche Erfinder des KZ-Systems. Es ist noch zu wenig bekannt und beachtet, dass dieses System wesentliche Anregungen aus den Irrenhäusern erhielt. Genauso wie später die Irrenhäuser im Rahmen der Euthanasie dem Probelauf für Auschwitz dienten.
Nun kann man in Bezug auf jenen Reichstagsabgeordneten, dessen Menschsein ausgelöscht wurde, während man ihm weiter das bloße Existieren gestattete, sagen, dass dies in einem Ausnahmezustand geschah.
Und man kann all den intellektuellen Befürwortern von Ausnahmezuständen, wenn sie den Formalismus des Rechtsstaats beklagen, nur von Herzen wünschen, dass sie ihre Einlassungen nicht eines Tages in einer Hundehütte bedauern müssen.
Die „Souveränität“ die einer gewinnt, der andere von Staats wegen quälen darf, hat zur Kehrseite den Verlust jeder Souveränität, ja am Ende gar des Menschseins für den oder die Gequälte.
Natürlich hat „Souveränität“ auch eine andere Seite: Wie souverän beherrsche ich mich und mein Handwerk, was kann ich nützliches tun für mich und meine Mitmenschen. Aber das ist eine andere Art von Souveränität. Eine die nicht über den anderen steht, sondern mit ihnen auf der Reise ist.
Und die deswegen auch keinen Ausnahmezustand braucht um bei sich zu sein.
Bevor man behauptet, dass wir zur Freiheit verurteilt seien, muss man erst den Begriff der Freiheit näher bestimmen. Das geht nur, wenn man auf den lächerlichen Versuch verzichtet die Determiniertheit unseres Lebens zu verleugnen. Da aber das Leben und die Welt nicht aus Kausalketten sondern aus Wechselwirkungen bestehen, sind Welt und Leben genügend unbestimmt, um auch dem freien Willen Raum zu lassen.
Aus dieser bestimmt-unbestimmten Welt folgt aber, dass unser Wissen und Können den Grad unserer Freiheit wesentlich mitbestimmt.
Deswegen sind die Anderen, die Nächsten, nicht die Grenze oder gar Feinde unserer Freiheit, sondern eine wesentliche Bedingung.
Was wir gegenüber der Welt vermögen, hängt nicht nur von uns ab. Es ist unser gemeinsames Vermögen oder Unvermögen. Dieses gemeinsame Vermögen bestimmt den gesellschaftlich und historisch möglichen Grad unserer Freiheit.
Insofern wird unsere Freiheit durch alle Anderen, unsere Nächsten, garantiert genauso wie wir die Garanten der Freiheit der Anderen sind bzw. sein müssen.
Wenn es so ist, dann ist unser Leben und das Leben unserer Mitmenschen geglückt.
Aber Leben glückt nicht nur.
Weil wir immer aus einem Kranz von Möglichkeiten wählen was dann wirklich wird, haben wir mit der Möglichkeit der Wahl die Möglichkeit der schlechten Wahl. Und damit auch die Möglichkeit zum Schlechten, zum Bösen.
Insofern sind wir die Schöpfer unserer eigenen Hölle.
Das blasierte „die Hölle, das sind die Anderen“ drückt sich mit seinem selbstgerechten Ekel vor der eigenen Verantwortung.
Einer Verantwortung, die um so größer ist, als der, der sich da ekelt, ja nicht weit davon entfernt war dem Teufel die Hand zu geben.
Für unseren ehemaligen Reichstagsabgeordneten sind es dagegen in der Tat die „Anderen“, die SA, die zu seiner Hölle werden.
Aber das liegt nicht daran, dass sie „Andere“ sind, sondern daran, dass sie die falsche Wahl getroffen haben. Die Freiheit, die sie hatten, haben sie mißbraucht um nun die Freiheit mit den Füßen zu treten.
Die Freiheit, die ich habe, ist nicht zum mindesten die Freiheit kein Eicke, kein Menschenquäler, sein zu müssen.
Ich bin in meinem Sein nicht allein auf der Welt. Es ist im Gegenteil eine wesentliche Bestimmung von mir, mich in vielen anderen zu spiegeln.
Erst das macht mich zum Menschen. Erst in der Beziehung zu anderen, einer Beziehung, die immer eine Wechselbeziehung ist, bin ich überhaupt. Ohne dieses Universum an Beziehungen kann ich möglicherweise gerade so nur existieren, wobei sogar dies fraglich ist.
Deswegen sind die Anderen auch nicht die Hölle für mich, sondern ohne sie gibt es keinen Himmel, kein Paradies, kein gelobtes Land.
Das Land, in dem Milch und Honig fliessen, ist vor allem ein Land in dem ich mit meinen Problemen nicht allein bin.
Im Paradies oder in der Blochschen Heimat kann ich nur dann sein, wenn ich die Sicherheit habe, dass mich jemand fängt, wenn ich falle.
Dies ist auch das Geheimnis manchen religiösen Bekenntnisses.
Wir erinnern uns an Bonnhöfers Gebet:

„Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Ein wunderbares Gebet, das wie alle Gebete nur einen Fehler hat: Es vertraut auf eine fremde Macht außer uns, wo wir doch auf niemand außer uns selbst vertrauen dürfen.
Marxens Diktum vom „Opium“ meint genau dies. Was allerdings meistens bei diesem Diktum vergessen wird: Marx kritisiert nicht die Sehnsucht, Marx kritisiert die Zustände in denen dieses Verlangen nach Geborgenheit nur ein jenseitiger Traum ist.
Wenn die Hölle aber nicht die Anderen sind, was ist dann die Hölle ?
Die Hölle ist das Getrenntsein von den Anderen.
Bei alten Völkern war die härteste Strafe der Ausschluss aus der Gemeinschaft des Stammes. Eine härtere Strafe konnte es nicht geben.
Deswegen gibt es keine Hölle, wenn ich von den Anderen, von meinen Mitmenschen, erkannt und anerkannt werde.
Das Problem aller Seinsphilosophen besteht darin, dass sie wie weiland St.Max schon vom „Einzigen und seinem Eigentum“ ausgehen, d.h. sie versetzen den Menschen von Anfang an in die Hölle und bekommen ihn da nicht mehr heraus. Sie ignorieren, dass jeder von uns vor allem ein tausendfacher Spiegel seiner Mitmenschen ist.
Sie hängen an ihren Abstraktionen in denen sich das leere Sein in all seiner Ödnis über die Welt ergiesst.
Trotzdem ist ihre Philosophie nicht ohne Realitätsbezug. Denn in der Tat ist das Alleinsein, das auf sich gestellt sein eine moderne Krankheit.
Allein zu sein mit der Welt und ihren Problemen ist aber bereits die Hölle.

„Alleinsein“ heisst hier zurück geworfen sein nur auf sich.
Bonhoeffer hat das durchaus auch so gesehen:
„So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du und die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid immer ganz gegenwärtig. […] Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsene heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“
So sehr dieses Alleinsein aber eine moderne Krankheit ist, so wenig ist es Schicksal. Der Spruch, wonach es kein richtiges Leben im falschen geben soll, ist nichts als die faule und bequeme Ausrede von Intellektuellen, die die Stammtischparole des „da kann man eh‘ nichts dran machen“ nur auf ein höheres Niveau gehoben haben.
Das richtige Leben wird nicht eines schönen Tages vom Himmel fallen, sondern kann nur aus dem Boden des jetzigen, falschen Lebens emporwachsen.
Umso nötiger ist es, dass wir die zarten, frostgefährdeten Keime neuen Lebens schützen und hegen.
Wenn allerdings Menschen, wie Bonnhöfer, in der Geborgenheit zu Hause sind, dann oft nicht wegen der Gesellschaft in der sie leben, sondern trotz dieser Gesellschaft.
Nicht nur der Nazistaat war, unsere Gesellschaft heute ist oft so organisiert, dass sie das Alleinsein schon fast erzwingt.
Damit Gesellschaft dagegen Geborgenheit ermöglicht, muss sie ein Sozialstaat sein. D.h. sie muss ihre Mitglieder vor den grossen Risiken des Lebens schützen.
Allerdings sind Gesellschaft und Staat immer bürokratische Gebilde und damit sachlich organisiert.
Wenn wir also sagen: Die Hölle ist dort, wo wir allein sind und zu bloßen Sachen werden, dann können Staat und Gesellschaft dieses Problem immer nur zur Hälfte lösen. Dass wir mehr sind als eine Sache und die menschliche Wertschätzung erhalten, die wir zum Leben brauchen, kann uns kein Staat garantieren.
Dazu brauchen wir die Anderen und ihre Liebe und Zuneigung. Wobei man Liebe und Zuneigung tötet, wenn man sie, wie Plato das tut, in ein bloßes Gespenst, in eine „reine“ Idee verwandelt. Liebe und Zuneigung müssen, damit sie überhaupt sind, auch „unrein“, nämlich körperlich, existieren.
Lieben können wir uns aber nur, wenn wir uns als Gleiche, d.h. auf Augenhöhe begegnen.
Wir bedürfen daher auch der Gleichheit.
Nun sind für manchen ja gerade die SA-Männer in ihren gleichen Uniformen das Muster an Gleichheit oder besser gesagt Gleichmacherei.
Das ist aber falsch.
In der SA oder vergleichbaren Orten findet man nicht den Anderen. An solchen Orten werden viele Einzelne zu einer Art Masse verbacken, die man zu jeder Art von Pogrom gebrauchen kann.
Obwohl sich die Individuen einer solchen Masse gleichen wie ein Klon dem anderen, ist doch jeder Einzelne von seiner Exklusivität überzeugt.
Irgendeine Form von Herrenmenschen-Ideologie ist normalerweise das Bindemittel, das aus den isolierten Sandkörnern den Stein werden lässt, der den Rest der Menschheit erschlägt.
Und obwohl sie in Rudeln auftreten, sind doch die Individuen in dieser Masse einsam und meist zu wirklicher Beziehung unfähig.
Es muss übrigens nicht die SA sein.
Von Franz-Josef Degenhardt gibt es ein Lied: „Du bist anders als die andern“ der dies z.B. für die Beschäftigten in Frankfurt/Main Niederrad oder irgendeiner anderen Bürostadt auf der Welt treffend beschreibt.
In diesen Massen steckt keine Kraft, nur Gewalt.
Die Kraft, die dagegen Bonhöffer beschwört, ist die Kraft die ihm andere geben.
Diese Kraft nennt er auch Gott. Diese Kraft verliert aber überhaupt nichts von ihrem Zauber, wenn wir sie aus dem Jenseits ins Diesseits versetzen. Es ist die Kraft, die wir erzeugen, weil und indem wir zusammen sind und uns lieben.
Fehlt diese Kraft, dann sind wir allein.
Dieses Alleinsein hat überhaupt nichts zu tun mit der Einsamkeit, die wir manchmal brauchen um bei uns selbst zu sein oder zu uns selbst zu kommen.
Diese Art von Einsamkeit, die wir z.B. in der Medidation erfahren schärft im Gegenteil gerade unser Bewußtsein dafür, dass wir ein Teil von einem grösseren Ganzen sind.
Mit Anderen zu sein garantiert uns nicht das Paradies, aber es ist der einzige Weg, der dorthin führt.
Mit Anderen sind wir aber bloß dann wirklich zusammen, wenn die Anderen für uns nicht nur Mittel sind. Nur das Zusammensein als Selbstzweck, die Begegnung mit Anderen als Wert an sich kann Gelingen ermöglichen.
Daraus erwächst aber ein Problem:
Unsere Fähigkeiten Anderen wirklich als Anderen zu begegnen sind gewissermassen limitiert. Wir können nicht mit Hundertausenden oder gar Millionen gut Freund sein. Auf der anderen Seite ist die westliche Beschränkung auf den kleinsten Familienkreis nicht das Maß aller Dinge und mit Sicherheit nicht der Modell aus dem sich eine wirklich menschliche Gesellschaft entwickeln kann.
Dass sich die Nachbarschaft um alte Menschen, die krank und allein sind oder um Kinder, die sich im Spielen vergessen, kümmert, scheint woanders normaler zu sein als bei uns. Auf jeden Fall hat mir kürzlich eine Vietnamesin den Unterschied zwischen Deutschland und ihrer Heimatstadt Hanoi auf diese Weise erklärt.
Weil wir nicht mit allen gut Freund sein können, werden wir mit vielen von diesen Anderen eine rein sachliche Beziehung haben und nur mit einigen von diesen Anderen eine wirklich menschliche Beziehung.
Wobei wir allerdings in unsere Wohlstandsberechnungen statt des Bruttosozialprodukts mehr die Vielfalt und der Reichtum unserer mitmenschlichen Beziehungen einfliessen lassen sollten. Vielleicht ist dann das arme Vietnam reicher als die reiche Bundesrepublik.
Dass unsere Beziehungen sachlich werden, schließt ein, dass andere Menschen für uns zur Sache werden.
Und am Ende dieses Wegs dienen wir nur noch irgendeiner Sache und werden von Sachen regiert.
Wobei die Befreiung der Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung auch zu einer „heiligen Sache“ werden kann, die dann unsere Entfremdung von uns selbst erst recht ins Unerträgliche steigert.
So sind nicht die Anderen die Hölle für uns, sondern wir und alle Anderen begeben uns auf den Weg in die Hölle, in dem wir uns und alle Anderen zu Sachen, zu Dingen machen, die anderen Sachen unterworfen sind.
Andererseits kann auch eine solche sachliche und bürokratische Konstruktion, wie sie unser Sozialstaat darstellt, eine wesentliche Voraussetzung dafür sein, dass menschliche Beziehungen erblühen können.
Das Problem, das wir zu lösen haben, besteht demnach darin, wie wir unseren Reichtum an persönlichen Beziehungen entwickeln können, wie wir unsere monadische Existenzweise überwinden, ohne in den falschen Ehrgeiz zu verfallen mit einigen Milliarden Menschen befreundet sein zu wollen.
Dazu müssen unsere sachlichen Beziehungen so geordnet sein, dass sie unser Menschsein ermöglichen, erleichtern und nicht verhindern.
Das geht aber nur, wenn wir uns auch auf der sachlichen Ebene als Gleiche begegnen.
Wobei Gleichheit eben heisst, dass wir alle gleich viel wert sind und nicht, dass wir als Klone durch das Leben laufen.
Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag auf der Basis von Freiheit, Gleichheit und Mitmenschlichkeit, bei der wir uns auf der sachlichen Ebene gegenseitig soweit den Rücken frei halten, dass wir unseren Mitmenschen als Menschen begegnen können.
Damit lassen wir dann das bloße Existieren hinter uns und begründen unser Menschsein „von starken Händen wunderbar geborgen“.
Von Händen, die auch unsere eigenen Hände sind.

Das Problem der Nähe und der Ferne hat noch einen anderen Aspekt. In der Nähe ist die wichtigste Form in der wir uns begegnen das Schenken.
Wir schenken uns Liebe und Aufmerksamkeit und bekommen sie wieder, wir beschenken uns wechselseitig mit unserem Wissen und werden dadurch und zwar beim Geben und beim Nehmen klüger.
Aber wir schenken uns nicht nur immaterielle Dinge.
Gehen wir einen Moment zurück in eine Zeit, in der die Märkte noch viel ferner waren als heute. So gelangen wir schließlich in ein Dorf, ein gutes Stück entfernt von der nächsten Stadt.
Dort steht ein Kirschbaum, gross und schon etwas älter. Der Kirschbaum gehört jemand. Die Kirschen sind reif und der Baum hängt voll.
Der oder die, dem oder der dieser Kirschbaum gehört, wird nun die nähere und weitere Verwandschaft mobilisieren um die Kirschen zu pflücken. Die Frauen werden eine Einkoch-Orgie starten und trotzdem bleibt in einem guten Jahr noch genug übrig um auch die Nachbarschaft, vor allem die Kinder, zu beschenken.
Kirschen halten sich nicht sehr lange und deswegen wird der Eigentümer sich nehmen, was er braucht und her schenken, was er entbehren kann.
Als ich ein Kind war, schlachteten meine Eltern einmal im Jahr 1 bzw. 2 Schweine. Und wenn dann Schlachtfest war, bekamen Verwandte, Bekannte und Nachbarn von der Wurstsuppe und vom Kesselfleisch reichlich ab. Es war schließlich der Teil, den man nicht konservieren konnte.
Und das Schlachtfest war auch deswegen ein Fest, weil wir von der Fülle, die wir für einen Moment hatten, andere beschenken konnten.
Nun gibt es Leute, die diese Kultur des Schenkens als eine Vorform des Äquivalententauschs ansehen, als eine Art frühen Tauschhandel.
Das trifft aber nicht zu. Das leitende Prinzip ist nicht die Äquivalenz von Geschenken und Wiedergeschenken. Das leitende Prinzip ist: Ich gebe von dem, von dem ich mehr als genug habe, dem der es brauchen kann.
Ich werde natürlich jemand, der auch schon genug hatte und dann die Fülle lieber verrotten ließ, als zu teilen, nichts geben. Insofern herrscht schon Äquivalenz. Aber nur insofern.
Typisch für eine solche Kultur des Schenkens ist im Gegenteil gerade normalerweise die Nicht-Äquivalenz. Es wird nicht in Gramm gemessen. Wer, wenn ihm jemand zulächelt, sein Zurücklächeln nach Freundlichkeitsgrad dosiert, dem wird eines Tages zur Strafe jede Art von Freundlichkeit und wirklicher Freude aus dem Gesicht gewichen sein und stattdessen einer Freundlichkeitsmaske Platz gemacht haben.
Da wir uns aber nah sind, kann ich darauf vertrauen, dass ich von dem, den ich heute beschenke, morgen auch beschenkt werde. Dabei geht es nicht darum, dass die Geschenke gleichwertig sind, denn in diesen Beziehungen herrscht das Prinzip: Jeder nach seinen Möglichkeiten. Es geht darum, dass ich nicht nur schenke, sondern auch beschenkt werde.
Sobald wir aber die Nähe verlassen, versagt dieses Prinzip.
An die Stelle von Schenken tritt Raub oder Handel.
Wobei Raub auch dann vorliegt, wenn irgendein Herr seinen Teil von den Kirschen erpresst z.B. durch den Verweis auf „althergebrachte“ Rechte.
Handel, das heisst Äquivalententausch, ist dagegen ein Fortschritt. Wobei Raub und Handel durchaus lange Zeit neben- und miteinander existieren können. Der „gnädige Herr“ raubt mir meine Kirschen um sie an einen Händler für den Markt zu verkaufen.
Das weckt in mir das Verlangen, meine Kirschen selbst und ohne Umweg verkaufen zu können. Sobald ich das erreicht habe, findet die Kultur des Schenkens in Bezug auf die Kirschen ihr Ende. Im Extremfall gönne ich mir und meinen Nächsten keine Kirschen mehr, weil ich sie lieber zum Markte trage.
Trotzdem geht die Kultur des Schenkens nicht unter. Schließlich ist es eines unserer elementarsten Bedürfnisse uns im Anderen zu spiegeln und von dort ein freundliches Bild zurückgeworfen zu bekommen.
Und gerade Güter, wie Freundlichkeit oder Wissen haben die unschätzbare, fantastische Eigenschaft sich durch teilen zu vermehren, so wie weiland auf der Hochzeit zu Kanaan Brot und Wein.
Wenn wir also auf dem Weg in die Wissensgesellschaft sind, dann sollten wir uns an die Arbeit machen und eine neue Kultur des Schenkens etablieren.
Zuvor wollen wir aber noch ein wenig bei den Deformationen verweilen, die uns zugefügt werden, wenn wir diese Kultur des Schenkens, der Liebe und der Zuneigung schon als Kinder nicht erfahren.
Kurz gesagt: Wir wollen und müssen Rogoschin auf seinem Weg in die Hölle folgen.

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Rogoschin Kaufmannssohn

Seit der Version 0.3 sind einige neue Kapitel dazu gekommen u.a. über „mangelnden Respekt“. Vor allem aber ist das Kapitel „Rogoschin und Myschkin“ gewachsen. Einen Auszug daraus lesen Sie unten.
Die neue Version erhalten Sie unter: Myschkin_f0.4

Rogoschin Kaufmannssohn

Der Streit ob die Henne vor dem Ei oder das Ei vor der Henne da war, endet bekanntlich damit, das man begreift, dass es vor der Henne eine Art Proto-Henne gegeben hat und vor dem Ei ein Proto-Ei.
Dadurch endet der Prioritätsstreit in der Geschichte einer Entwicklung.
Max Weber hat in seiner „Protestantischen Ethik“ darauf insistiert, bewiesen zu haben, dass eine geistige Revolution der materiellen Revolution Industrialisierung und Kapitalismus voraus ging und diese vorbereitete. Er wollte dieses Konzept als Gegenkonzept zu Karl Marx verstanden wissen.
Dieser Wechsel von einer Gesellschaft, in der mann/frau arbeitete um zu leben und in der Krankheiten, Mißernten, Heuschrecken und Herrschaft manchmal das Leben und Überleben schwer, fast unmöglich machten, zu einer Gesellschaft, in der mann/frau nur ein Recht auf Leben haben soll um zu arbeiten, in der aber auch alle Reichtumsquellen so überreich fließen, dass der einzige Mangel, den diese Gesellschaft kennt, der Mangel an Arbeit ist, dieser Wechsel war mindestens so umwälzend, wie jener vom im Wasser abgelegten Schleim zum Ei mit fester Schale, das bebrütet wird.
Entsprechend müssen sich auch erste verschiedene Inseln des Proto-Kapitalismus bilden, bevor alle diese Inseln zum neuen, zum angeblichen „Promise-Land“ zusammen wachsen können.
Und bei der Bildung dieser Inseln sind die verschiedenen christlichen häretischen Strömungen, die seit dem Mittelalter spriessenden Sekten, so etwas wie die Hefe im Mehl.
Allerdings nährt der Geist alleine niemand, und so ist, wie Marx richtig festgestellt hat, eine neue Art seinen Lebensunterhalt zu verdienen, die Grundvorraussetzung für alles übrige. Diese neue Art seinen Unterhalt zu bestreiten, wird zur neuen Lebensart. Und diese neue Lebensart steht im schroffen Gegensatz zur alten. Dieser Gegensatz muß notwendigerweise eine Ideologieproduktion in Gang setzen, die die Sehnsucht nach Erlösung aus dem irdischen Jammertal in eine Sehnsucht nach einem neuen Jerusalem, der Stadt auf den Bergen, übersetzt.
Und dieses neue „Jerusalem“ und das ist ihr unauflösliches Paradox, verkündet im Namen der Liebe das allumfassende Streben nach Besitz und Reichtum zum Ziel des Lebens überhaupt.
Wir leben um zu haben und wir arbeiten hart um noch mehr zu haben.
Und dadurch, dass wir haben und in dem was wir haben, nehmen wir teil am ewigen Leben. Unser Tod ist nichts, weil unser Werk uns überlebt.
Das ist der Kern des neuen Evangeliums.
Ihr alpha und omega und ihr wirkliches Vaterunser.
Rußland in den 60iger Jahren des 19.Jahrhunderts ist in der selben Situation wie Japan oder China zur selben Zeit:
Die Entwicklung, die da erst in England und dann in New England ins Rollen gekommen ist und danach dank Frankreich und Napoleon auch auf den europäischen Kontinent übergegriffen hat, droht diese alten Staaten zu untergraben und unter sich zu begraben. Deswegen versucht der Staat die zarten Pflänzchen einer eigenständigen Entwicklung durch politisches Handeln zu ergänzen und zu beschleunigen. Während dies in Japan gelingt, scheitert es in China und Rußland.
In Japan gelingt der Schulterschluss der herrschenden Samurei mit der Bürokratenkaste und gemeinsam mausern sie sich zu einer japanischen Bourgeoisie. In Rußland entdeckt die Adelskaste hauptsächlich Baden-Baden, Bad Ems und Paris, während die Bürokratenkaste zwischen sklavischer Unterwürfigkeit und revolutionärer Phrasendrescherei hin- und herschwankt. Lebedew ist dafür der Prototyp.
Und der Schmähartikel über Myschkin in einem Petersburger Skandalblättchen, den Keller verantwortet und Lebedew diktiert hat, beginnt mit: „Proletarier und Edelinge“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20102
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 134)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

In den 70iger Jahren unseres Jahrhunderts soll man auf studentischen Vollversammlungen der Uni Göttingen den Vorsitzenden des christ­demok­rati­schen Stundentenverbands RCDS mit den Worten: „Das Wort hat nun der Genosse RCDS-Vorsitzende“ ans Rednerpult gebeten haben.
„ Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten; sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte nichts Besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793-1795 zu parodieren. So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet, und frei in ihr zu produzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergißt.“
[Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 11625-11626
(vgl. MEW Bd. 8, S. 115) http://www.digitale-bibliothek.de/band11.htm ]

Die russischen „Revolutionäre“ zogen sich den Blaumann an und traten als Arbeiterführer auf. Aber darunter verbargen sie nur ihre Ärmelschoner und ihre sonstige Beamtenuniform.
Und so war ihre „Revolution“ auch eher eine Konterrevolution. Sie bekämpfte den Kapitalismus bis aufs Messer. Nicht um ihn zu überwinden, sondern um das geschundene Land weiter als Beute zu behalten.
Die Bürokratie wurde mit „Sowjetöl“ gesalbt (Lenin!), die Türschilder gewechselt, während die Futterkrippen blieben. Inzwischen wurden die Türschilder ein weiteres Mal gewechselt und angeblich ist Rußland jetzt ein kapitalistisches Land. Aber gibt es dort auch Kapitalisten ? Haben die Neureichs in St.Moritz wirklich etwas mit Akkumulation, mit Reichtumsproduktion als Selbstzweck, am Hut ?
Kapitalismus bedeutet nicht einfach nur Reichtum, es bedeutet mit dem, was man hat, nicht zufrieden zu sein.
Es bedeutet eine Maschine anzuschieben und in Gang zu halten, die heute bessere Zahlen produzieren soll als gestern und die morgen noch mehr davon liefert. Alle Leidenschaft gehört diesem schneller, weiter und höher. Weswegen auch die Leidenschaft für eine Frau ein entscheidender Störfaktor ist. Fast so schlimm wie Trunksucht.
Der „Yankee aus Conneticut“ verkörpert diesen Geist.
Der Vater Rogoschins verkörpert diesen Geist und deswegen muss er auch seinen Sohn verprügeln als er tausende Rubel vergeudet für eine Frau. Deswegen ist er sich nicht zu schade zu der Dame zu gehen und um die Herausgabe des Schmucks zu betteln. Und deswegen stirbt er vor Kummer über seinen verkommenen, mißratenen Sohn.
Während der Vater stirbt, liegt der Junge besoffen in Pskow im Dreck, so besoffen, dass schon die streunenden Hunde an ihm zu nagen beginnen und er sich in der Kälte fast selbst den Tod holt.
Unser Kaufmannssohn wird damit zum besoffenen Gutsbesitzer. Eine der typischen nutzlosen Existenzen, wie sie in Gestalt von „Leutnants“ die damalige Welt Rußlands, Preußen oder Österreichs heimsuchen.
In jener gespenstischen Szene, als Myschkin Rogoschin zu Hause besucht und sie Brüder sein sollen und ihre Anhänger tauschen, wenn Rogoschin schon das Messer richtet, mit dem er später Natassja tötet und zuvor Myschkin bedroht, in dieser Szene entdeckt Myschkin ein Bild an der Wand und frägt:
„»Das ist wohl dein Vater?« fragte der Fürst.
»Ja, das ist er«, antwortete Rogoschin mit einem unangenehmen Lächeln, als ob er vorhätte, im nächsten Augenblick irgendeinen ungenierten Scherz über seinen verstorbenen Vater zu machen.
»War er ein Altgläubiger?«
»Nein, er ging in die Kirche; aber er sagte allerdings, der alte Glaube sei richtiger. Auch vor den Skopzen hat er Achtung gehabt. Dies hier war sein Arbeitszimmer. Warum fragst du danach, ob er altgläubig war?« „
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19973
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 49) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

Die „Altgläubigen“ erkannten nicht den Zaren als Herrn über die Kirche an und die Skopzen ließen sich als Männer die Hoden und wenn sie besonders fromm waren den Penis abschneiden, während sich die Frauen Brüste und Klitoris entfernen liessen. Sie wollen sich damit vor der Sünde der sexuellen Wollust schützen, in dem sie die „Werkzeuge“ dazu, die sie als Werkzeuge des Satans sehen, abschnitten.

Sie töten die Wollust und stempeln sie zur Todsünde, während sie der wirklichen Todsünde der Habsucht und des Haben-wollens rettungslos verfallen.

Insofern hat Rogoschins Rebellion gegen den Vater zwei Seiten: Er wendet sich gegen eine Welt, die wirkliche, körperliche Liebe zur „Sünde“ erklärt und die Liebe zum Besitz zur Tugend, aber bleibt einer, der dem Haben-wollen verfallen ist.
Seine Rebellion will nicht das Besitzen- und Beherrschen-wollen hinter sich lassen. Er will statt abstrakter Rubelscheine die schönste Frau Petersburgs besitzen.

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Hesse über Myschkin

Die Arbeit geht weiter. Das Kapitel Myschkin und Rogoschin ist angefangen, aber noch lange nicht fertig.
Dafür gibt es einen Kommentar zu Hesses Kommentar zu Hesse.
Die neue Version kann man hier lesen: Myschkin_f0.3

Das Kapitel über Hesse:

Hermann Hesse über Myschkin

Von Hermann Hesse gibt es einen Aufsatz aus dem Jahr 1919 mit dem Titel „Gedanken zu Dostojewskis «Idiot»“. ….. Den ganzen Aufsatz findet man hier: http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/Idiot-mit-Dostobild.pdf

Betrachten wir seine Ausführungen im einzelnen. Die zentrale Aussage Hesses scheint mir folgende zu sein:“Der Idiot ist, sagte ich, zeitweise jener Grenze nahe, wo von jedem Gedanken auch das Gegenteil als wahr empfunden wird. Das heißt, er hat ein Gefühl dafür, daß kein Gedanke, kein Gesetz, keine Prägung und Formung existiert, welche anders wahr und richtig wäre als von einem Pole ? und zu jedem Pol gibt es einen Gegenpol.“
Man kann es auch anders sagen: Für den Idioten ist das Nicht-Identisch-Sein Teil seiner Identität.
Und das erschreckt alle an ihm, auch Hesse.
Das Erschrecken resultiert dabei daraus, dass „Identität“ eben keineswegs ein so selbstverständlicher Zustand ist, wie man sich gerne einredet. Aber je weniger selbstverständlich Identität ist, um so grösser der Unwille, wenn das Identitätsdenken in Frage gestellt wird.

Woher kommt dieses Nicht-Identisch-Sein ?

Hesse meint:
„Myschkin unterscheidet sich von den andern dadurch, daß er als «Idiot» und Epileptiker, der aber zugleich ein recht kluger Mensch ist, viel nähere und unmittelbarere Beziehungen zum Unbewußten hat als jene.…
Er hat Magie, er hat mystische Weisheit nicht gelesen und anerkannt, nicht studiert und bewundert, sondern (wenn auch nur in ganz seltenen Augenblicken) tatsächlich erlebt.“

Es ist typisch für Nicht-Epileptiker, dass sie vom Anfallsgeschehen so verstört sind, dass sie hier eine „höhere Macht“ walten sehen.
Dabei wird übersehen, dass man als Epileptiker während des Anfalls bewußtlos ist und in diesem Zustand schlecht das Unbewußte sehen kann. So spektakulär ein Anfall für den Zuschauer aussieht, so banal ist das Geschehen für den im Zentrum. Aber das ist ja nicht ungewöhnlich, denn im Auge des Hurrikans ist es auch still.

Bleibt die Aura, jener kurze, noch bewußte „Moment des Glücks“ von dem Dostojewski schreibt. Ich hatte nie eine Aura. Aber Menschen, die wie Dostojewski eine Aura erlebt haben, haben mir erzählt, dass sie diesen „kurzen Moment“ hauptsächlich dazu nutzen sich in Sicherheit zu bringen. Ein Anfall ist für den Betroffenen zu allererst ein Sturz, bei dem man sich alle Knochen brechen kann. Es ist schon erstaunlich, wie heil ich die unmöglichsten Stürze übrerstanden habe, aber ich habe mir auch schon aus einer „harmlosen“ Situation heraus das Nasenbein gebrochen und die Zähne eingeschlagen.

So leid es mir für Hesse auch tut: Das mit der höheren magischen Wahrheit ist ein Schmarren.
Damit stellt sich allerdings erst die Frage nach der Ursache von Myschkins Andersartigkeit, die laut Hesse ja darin besteht, dass sein Denken „zum Chaos zurück kehrt. „
„Ein Denken, das zum Unbewußten, zum Chaos, zurückkehrt, zerstört jede menschliche Ordnung.“ dekretiert er.
Die Frage ist allerdings ob seine Angst vor dem Chaos und der „Zerstörung ..menschlicher Ordnung“ nicht typisch deutsch ist.

So ordentlich wie Hesse sich das wünscht, ist nur der Kristall und der ist tot. Das Leben beinhaltet immer neben Ordnung auch Chaos. Nur durch diesen Tanz auf der Grenze von Ordnung und Chaos ist überhaupt das Lebendige definiert.

Bleibt die Frage, wodurch Myschkin das Ordnungsemfinden Hesses, der Jepantschins und ihres Anhangs, aber auch Ippolits und seiner „Nihilisten“ so nachhaltig stört.

Was definiert überhaupt „Ordnung“ ?

Der Mensch ist ein soziales Tier. Und alle diese Tiere haben zu allererst eine Rangordnung. Mann und Frau sortieren sich in Hierarchien.

In der menschlichen Gesellschaft ist es noch ein bißchen komplizierter. Neben der gewissermaßen natürlichen Hierarchie, die sich aus der Person und ihren nachvollziehbaren Fähigkeiten ergibt, existiert im Rußland der 60iger Jahre des 19.Jahrhunderts noch eine Hierarchie kraft Geburt, die manche dazu berechtigt andere auch körperlich zu züchtigen und daneben und darunter, aber in wachsender Konkurrenz auch eine Hierarchie, die sich auf Besitz gründet und die dem, der Geld hat, auch Geld geerbt hat,die Möglichkeit verschafft, dem der ihn schlagen darf, gegebenenfalls finanziell die Gurgel zu zu drücken.

Weil diese unterschiedlichen Hierarchiesysteme in Konkurrenz und Konflikt geraden sind, deswegen sind die „Nihilisten“ und ihr merkwürdiger Auftritt überhaupt möglich.

Myschkin aber sind all diese konkurrienden Hierarchiesystem fremd.
Wobei das nicht heisst, dass sein Verstand sie nicht begreift, aber er lebt sie nicht und sie leben nicht in und mit ihm.

Um das zu verstehen, können wir alle „vererbten“, von früheren Fähigkeiten und Verdiensten hergeleiteten Hierarchien, ob sie nun auf Geld (auch ererbtem Geld) oder ererbtem Rang beruhen, getrost vergessen.
Sie definieren sowieso nur ein von den Vorfahren geschenktes Plus oder Minus, das einem am Bein hängt oder nach oben trägt, bei der Herausbildung dessen, was wir als natürliche oder Fähigkeitshierarchie bezeichnen können.

In einer Gesellschaft der Gleichheit wäre dieses Plus oder Minus Null. Und somit würden wir auch nur in einer solchen Gesellschaft tatsächlich von den Fähigsten unter uns regiert.

Aber auch in einer solchen Gesellschaft hätte Myschkin Probleme mit der Rangordnung.
Das liegt daran, dass wir uns in den Gruppen, in denen wir zu Hause sind, gewissermaßen nach unseren Fähigkeiten sortieren.
Da wir auf unterschiedlichen Gebieten unterschiedliche Fähigkeiten haben, findet eine Mittelwertbildung statt. Daraus errechnet sich unser Rang. Natürlich bleiben bei annähernder Gleichheit Zweifel und man überschätzt sich gerne. Dann finden Rangordnungskämpfe statt.
Wir unterscheiden uns da weniger von Affen oder Raben, als wir in unserer Selbstüberschätzung gerne wahr haben wollen.

Das Problem für Myschkin besteht nun darin, dass eine Mittelwertbildung bei Extremwerten nicht funktioniert. Aus einem „klugen Menschen“ und komletten Idioten ergibt sich nun mal kein halber Idiot oder nicht ganz so kluger Mensch. Beides Klugheit und Idiotie bleiben in ihrer Gleichzeitigkeit Myschkinsche Attribute.
Damit ist aber sein natürlicher Platz in einer natürlichen Hierarchie das Nirgends oder auch das Überall und damit die Ortlosigkeit.
Er ist allen anderen gleichzeitig überlegen und unterlegen und damit ist seine Identität das Nicht-Identisch-Sein.

Wenn wir uns nun fragen, warum es bei sozialen Tieren eine solche Rangordnung geben muss, dann ist die Antwort darauf: Weil damit der Krieg jeder gegen jeden, den nach Hobbes angeblich erst der Staat befriedet, verhindert wird. D.h. natürliche Rangordnungen (nicht der ererbte Rang oder das ererbte Geld) sind für soziales Zusammenleben unverzichtbar.

Gleichzeitig verschlingen Rangordnungskämpfe aber auch viel Energie, denn das Nicht-Identisch-Sein ist bei den Myschkins ja nur extrem, insofern wir es hier mit Gleichzeitigkeit zu tun haben. Aber auch die anderen Mitglieder einer sozialen Gruppe bleiben heute nicht wie gestern. Der eine ist zwar ein Silberrücken, aber an der Spitze zu stehen ist anstrengend und irgendwann schwinden die Kräfte, dem anderen wachsen sie und so greift er an und erobert sich einen neuen Platz in der Hierarchie usw. ad infinitum.

Weibchen sind in der Regel schwächer und zumal mit einem Kind auf dem Rücken verletzlicher und deswegen bleiben sie häufig untergeordnet. Aber mit zunehmender Entwicklung des Sozialen bilden sich neue Verhältnisse. An Stelle roher Kraft tritt die Fähigkeit zu kooperieren, sich zu verbünden.

Hier erweisen sich die Frauen mit ihrer Fähigkeit zu Liebe und Zuneigung aber als das stärkere Geschlecht. Das heisst nicht dass Rangordnungen verschwinden, aber sie werden modifiziert durch Verstehen, Verzeihen und Gernhaben, kurz durch Liebe.

In solchen frauengeprägten Gesellschaften mit ihrer anderen Art von Ordnung hätte es unser Myschkin leichter. Aber leider ist das Matriarchat mit der Herausbildung des Kriegertums vermutlich untergegangen. Zwar erinnert uns der Mythos der Amazonen daran, dass am Anfang dieser Zeit neben Kriegern auch Kriegerinnen existierten, aber vollkommen zu Recht erzählt uns dieser Mythos auch davon, dass am Ende die Kriegerinnen den Krieg verloren haben.

Und so sind wir heute wieder in mancher Hinsicht in der Welt der Paviane gelandet.

„Höchste Wirklichkeit für Myschkin aber ist das magische Erlebnis von der Umkehrbarkeit aller Satzungen, vom gleichberechtigten Vorhandensein der Gegenpole. Der «Idiot», zu Ende gedacht, führt das Mutterrecht des Unbewußten ein, hebt die Kultur auf. Er zerbricht die Gesetzestafeln nicht, er dreht sie nur um und zeigt, daß auf der Rückseite das Gegenteil geschrieben steht.
Daß dieser Feind der Ordnung, dieser furchtbare Zerstörer nicht als Verbrecher auftritt, sondern als lieber, schüchterner Mensch voll Kindlichkeit und Anmut, voll guter Treuherzigkeit und selbstloser Gutmütigkeit, das ist das Geheimnis dieses erschreckenden Buches.“

Dass der Idiot das „Mutterrecht des Unbewußten“ einführt, hebt mit nichten die Kultur auf.

Es durchlöchert aber die strengen Satzungen des Vaters setzt die prinzipielle Unordnung des Lebens neu auf unsere Tagesordnung.

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