Ohne Zufall gäbe es keine Freiheit

In Heft 2/11 von „Sinn und Form“ hat mein sehr geschätzter früherer Arzt, Herr D.Janz ein sehr interessantes Interview gegeben.
„Aber was man braucht ist die Souveränität nichts für Zufall zu halten.“ sagt er dort und er macht sich Gedanken über die Krankheit als Bestimmung.
Für mich bedeutet Wertschätzung auch, dass ich widerspreche, wenn ich nicht einverstanden bin.
Deswegen habe ich an die Redaktion und Herrn Prof.Janz den folgenden Brief geschrieben: Brief_Sinn_und_Form_0211_Endfassung

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Taxi nach Ringsted

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Taxi nach Ringsted

Als wir am Kopenhagener Hauptbahnhof ankamen, hatten wir noch Zeit. Direkt neben dem Bahnhof gibt es eine originelle Kneipe. „Jenerbanen“ ist eine Eisen­bahner­-Bierschwemme mit eigener Biermarke.
Es wird viel geraucht im „Jenerbanen“ , soviel, dass man manchmal die Hand vor den Augen nicht sieht, die Leute stehen um die Theke, die Wände sind mit Bildern bepflastert und wer ein Bier bestellt bekommt eine Rabatkarte in die Löcher gezwickt werden, Mengenrabatt für die Schluckspechte. Wenn Sie mal nach Kopenhagen kommen, schauen Sie unbedingt rein, es ist ein Erlebnis.
Wir tranken ein Bier und dann noch ein 2.tes. Zwar war mein Kollege der Meinung, dass der Nachtzug um 18:40 losfahren sollte, aber ich war der felsenfesten Überzeugung, dass die Abfahrt um 19 Uhr ist und habe das so überzeugend vertreten, dass keiner von uns beiden auf die Idee kam, einfach unsere Fahrkarten zu checken.
Nach dem zweiten Bier zahlten wir und gingen etwas „früher“ um dann am Bahnsteig dem abfahrenden Zug hinterher zu schauen.
Es war der Nachtzug nach Deutschland und damit unsere einzige Möglichkeit die Nacht nicht auf harten Bänken im Bahnhof zu zu bringen.
Ich fasste mich am schnellsten: „Wir gehen zum Taxistand und fahren zum nächsten Bahnhof“.
Im Eiltempo ging es zum Taxistand vor dem Bahnhof gegenüber vom Tivoli.
Der Taxifahrer war ein Palästinenser oder Jordanier.
Wir einigten uns schnell mit ihm, dass der nächste Bahnhof, Hoje Taastrup, zu nah ist, um vor dem Zug dort zu sein.
Also war das nächste Ziel Ringstedt
Nun protestierte aber unser Fahrer. Er wisse nicht, wie er fahren müsse um nach Ringsted zu kommen.
Nach einigem Hin und Her fuhr er schließlich an den Straßenrand.
In selben Moment als er an die Seite fuhr, hatte ich das Gefühl, als hätte jemand einen Staubsauger angemacht und würde damit mein Gehirn und jeden vernünftigen Gedanken darin weg saugen.
Für mich war in diesem Moment alles verloren.
Der Taxifahrer drückte mir einen Stapel Karten in die Hand und meinte, ich solle ihm darauf den Weg nach Ringsted zeigen, ich saß auf dem Beifahrersitz und ich wusste noch nicht mal mehr wie rum ich die Karte halten muss, geschweige denn, das hätte wissen können wo Ringsted ist.
Zum Glück für mich, behielt mein Kollege die Nerven und die Übersicht. Er machte dem Taxifahrer unmissverständlich klar, dass er losfahren und sein Navigationssystem nutzen sollte. Mit immer wieder wiederholtem „keep going“ und der Antwort „you put me under pressure“ erreichten wir schließlich mehr oder weniger in letzte Minute Ringsted. Während dessen kehrte mir auch mein Verstand wieder langsam zurück.
Der Halt am Straßenrand stak mir allerdings noch länger in den Knochen.
Wenn man dieses absolute Gefühl der Leere, der totalen Unfähigkeit zu handeln, einmal erlebt hat, vergisst man es nie mehr.
Und ich erlebte es in dieser Woche zum zweiten Mal: Montags und Freitags.
Beim ersten Mal hatte ich hilflos in einem Aufzug gestanden.
Es ist als verabschiede sich mein Ich von mir und zurück bleibt eine leere Hülle.
Was passiert da?
Eigentlich arbeitet unser Gehirn immer, selbst im Schlaf. Aber es arbeitet in verschiedenen Modi. Im Schlaf z.B. wird die Verbindung zur Außenwelt mehr oder weniger vollständig unterbrochen.
Im Wachen gibt es Modi unterschiedlicher Wachheit, vom Tagträumen bis zu einem Zustand den ich als „Hellwach“ bezeichnen möchte.
Diese Zustände unterscheiden sich durch die Intensität mit der wir unsere Umwelt wahrnehmen.
Beim Tagträumen nehmen wir nur das Nötigste wahr, im Hellwach-Zustand haben wir gewissermaßen alle Antennen auf Empfang.
Hellwach sind wir, wenn es um etwas geht, im Beruf, in der Politik oder in der Liebe.
Wobei es eigentlich falsch ist, wenn ich „wir“ sage, denn den Zustand „hellwach“ erreichen ich nicht, weil nicht alle meine Antennen empfangen können oder weil nicht alle Signale, die meine Antennen erreichen, weiter verarbeitet werden.
Das Resultat ist dasselbe, nur die Ursache ist anders. Wobei ich persönlich eher Probleme bei der Signalverarbeitung als ursächlich ansehe d.h. die Antennen funktionieren vermutlich, aber die Fähigkeit „abzuschalten“ und damit die Fähigkeit Signale weg zu blenden, damit sie das Hirn nicht beim Denken stören, ist überentwickelt und kann nicht weit genug zurück gefahren werden.
Mein Gehirn will vom Träumen niemals lassen.
So gut es geht gleicht mein Verstand diesen Umstand aus und so gelingt es mir, wenn ich Glück habe, solche eine „ich muss jetzt hellwach sein“-Situation heil zu überstehen.
Ich kann auch in so fern Glück haben, dass mir jemand aus der Patsche hilft.
Selbst wenn mir niemand aus der Patsche hilft, kann ich mich einfach nach den anderen richten und dann habe ich auch Glück.
Aber ich habe nicht immer Glück.
Und manchmal kann mir niemand helfen.
Nach dem „Hellwach“-Zustand gibt es dann noch „höchster Alarm“. Das ist kein Normal- sondern ein Ausnahmezustand. Wenn dieser Level erreicht wird, schaltet mein Gehirn ab und auf meiner Stirn erscheint ein Schriftband „Wegen Überforderung vorübergehend geschlossen“.
So war es an diesem Freitag im Taxi.
Zu meinem Glück und im Unterschied zu anderen Situationen konnte ich mich einfach im Sitz zurücklehnen und auf den wachen Verstand meines Kollegen hoffen.
Vor einigen Wochen wurde Günther Amendt überfahren.
Das Auto raste in Hamburg ungebremst über den Gehsteig und riss mehrere Passanten in den Tod.
Inzwischen weiß man, dass der Autofahrer ein Epileptiker war, der sich sein „Recht auf einen Führerschein“ vor Gericht erkämpft hatte.
Nun wird darüber spekuliert, ob er möglicherweise einen Anfall gehabt hatte, als er mehrere Menschen überfuhr.
Er muss keinen Anfall gehabt haben, es reicht, wenn auch sein Verstand, wie meiner manchmal, vorübergehend außer Betrieb war.
Übrigens können auch vollkommen Gesunde in so einen Zustand der Starre geraten. Es muss ihnen aber mehr passieren, damit das passiert.
Die Konsequenz daraus kann nur sein, dass wir uns gegenseitig weniger überfordern. Idioten wie ich müssen zwangsläufig zu Versagern werden, manchmal sogar zu gefährlichen Versagern, wenn unser Leben so eingerichtet wird, dass man nicht nebenher vor sich hinträumen darf, weil immer die volle Aufmerksamkeit gefordert ist.
Auf der anderen Seite müssen wir Idioten uns auch der Zumutung des immer bereit und aufmerksam sein Müssens energischer widersetzen.
Es ist doch eine bittere Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Günter Amendt, der vielen von uns ein entspannteres, stressfreieres Verhältnis zu unserer Sexualität vermittelt hat, dass ausgerechnet er von einem epileptischen Idioten überfahren wird, der mit großem Einsatz und zweifelhaftem Erfolg darum gekämpft hat als Mann nicht ohne Auto und Führerschein da zu stehen.
Für manche Männer ist ja der Verlust ihres fahrbaren Untersatzes fast eine Kastration. Nicht ohne Grund findet man im Zeitschriftenladen die Zeitschriften mit den vielen PS direkt neben den Blättern mit den großen Busen.
Wir müssen lernen wieder mit unserer Unvollkommenheit zu leben und uns nicht dafür zu schämen, sagen zu müssen: Ich kann das nicht!
Übrigens gelingt das Frauen heute schon viel besser als den Männern.

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Von Wölfen, Pavianen, Schimpansen, Bonobos und der Frage der Moral

Das jetzt dazu gekommene Kapitel versucht Fragen der Moral zu beantworten, wie sie sich u.a. aus dem Kapitel über Maria ergeben.
Den den derzeit letzten Stand von „Wir Myschkins“ kann man hier laden:
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Von Wölfen, Pavianen, Schimpansen, Bonobos und der Frage der Moral

Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, ist ein altehrwürdiger Spruch, der allerdings die Wölfe mit ihrem hochentwickelten Sozialleben beleidigt.
Überhaupt hat Hobbes unrecht, wenn er meint, erst der Staat habe den Krieg aller gegen alle durch sein Gewaltmonopol aufgehoben und unterdrückt.
Das Problem stellt sich schon viel früher und muss dementsprechend auch gelöst werden.
Wenn z.B. unter den Angehörigen einer Tierart der Kampf um Ressourcen grundsätzlich immer bis zum Letzten ginge, ginge diese Art schnell unter.
Schon im Tierreich ist es deswegen wichtig, dass solche Konflikte eingedämmt werden.
Ein Mittel dazu ist die Revierbildung. Die Kehrseite davon sind Revierkämpfe. Trotzdem garantiert die Revierabgrenzung einen gewissen Frieden, vor allem wenn die Kämpfe ritualisiert und damit gezähmt werden.
Möglicherweise setzt Gruppenbildung dann ein, wenn zu wenig abgrenzbare Reviere da sind. Die Jungtiere bleiben dann bei der Mutter.
Nun müssen die Konflikte innerhalb der Gruppe geregelt werden.
Dazu gibt es grundsätzlich zwei Wege: Aus Revierkämpfen werden Rangordnungskämpfe. Oder aber die Mutter behält ihre Autorität über das eigentliche Kindesalter hinaus. Genauso wie die Geschwisterliebe über das Kindesalter hinaus lebendig bleibt.
Beide Wege werden gegangen. Und es gibt jede Menge Mischungen und Abstufungen dazwischen.
So entwickelt sich Sozialleben zwischen den Polen Unterordnung unter den Stärkeren und/oder Weiterentwicklung der ursprünglichen Bindungen an die Mutter und die Geschwister.
Vom Vater ist hier zunächst nicht die Rede, denn Väter neigen oft dazu die Jungen zu fressen. Jeder Katzenbesitzer weiss, dass die Kätzin ihre Jungen nicht nur vor den Menschen versteckt.
Wenn die Männer aber ihr Leben lang Brüder bleiben, bevor sie zu Vätern werden, ändern sich die Verhältnisse und aus Vätern können mit der Zeit auch liebevolle Väter werden.
Ich würde mich überschätzen, würde ich hier ein komplettes Bild der Sozialentwicklung von Säugetieren versuchen, aber ich glaube und behaupte, dass diese 2 Grundtendenzen, die sich durchaus in den Haaren liegen, prägend sind.
Dass diese beiden Tendenzen zugleich auch mit der Geschlechterpolarität verknüpft sind, macht die Sache noch verwickelter.
Damit sind wir aber weder erst durch Kultur zu zähmende Totschläger des eigenen Vaters, wie Freud meinte, noch startet unser Menschsein in einer Gesellschaft Gleicher und Gleichberechtiger, wie man z.B. bei Engels lesen kann.
Das heisst nicht, dass Engels und Freud Unrecht haben. Ja, es kann den Vater-Tyrannen, den die Brüder ermorden, gegeben haben. Und zwar nicht erst bei den Menschen, schon bei den Schimpansen.
Und ja: Es gibt diese fröhliche und gleiche, der sexuellen Lust zugewandte „urkommunistische“ Gesellschaft schon bei den Affen, den Bonobos.
Welche Konsequenzen hat das für uns und unser soziales und politisches Leben ?
Zunächst diese, dass wir von Natur aus über ein sehr breites Spektrum von Möglichkeiten verfügen. Die tatsächliche Breite dieses Spektrums wird uns von unseren tierischen Verwandten aufgezeigt.
Gut und Böse ist gleichermassen Teil unserer Natur.
Die Frage, was das denn sein soll: „Gut“ und „Böse“ lässt sich am leichtesten Beantworten, wenn wir uns klar machen, dass wir (d.h. der lebendige Teil der Welt, die Biosphäre) in Bezug auf diese Erde nichts weiter sind, als die Schale eines Apfels. Und dieser Apfel selbst ist ziemlich einsam im All.
D.h. Leben ist etwa sehr seltenes und kostbares. „Gut“ in diesem Sinn ist daher alles, was das Leben stärkt. Nicht nur unser eigenes, sondern diese dünne Schale insgesamt. „Schlecht“ oder „Böse“ ist demnach alles was das Leben zerstört.
Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik hat Bloch seine „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ verfasst. Sie ist auch eine Absage an die „Panlogiker“, d.h. an die Heilsgewissheit Hegels und vieler Marxisten. Die Ironie dabei ist, dass Bloch selbst einer der grössten und hartnäckigsten Panlogiker war. D.h. es ist auch eine Selbstkritik mit einem lauten „Dennoch“, denn wer so fest an das Gelingen glaubt, lässt sich durch die Möglichkeit des Scheiterns nicht schrecken.
Die räumlich Nähe Heideggers bringt es wohl mit sich, dass es sehr Ontologisch zugeht, mit lauter Nicht, Nichts, Daß und Was, die wunderbarer Weise Arme und Beine haben und natürlich Münder:
„Auf diese Art erscheint bei Hegel allerdings Negativität durchaus als eine wie durch sich selbst dialektisch eingemeindete, ja als der wesentliche Sauerteig, der den Prozeß zum Aufgehen bringt. Die Negativität ersetzt so die Intensität und Dynamik, die dem reinen Äther der in sich weilenden Idee ja keineswegs zukommen; die dialektische Negation wird dergestalt in Hegels Philosophie zum Erregenden schlechthin, zum Gegengift nicht nur der Stockung. auch der faden Zufriedenheit. Das ist das Große an Hegel, daß er das Negative auch begrifflich nicht ausläßt: „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes“ (Phänomenologie, Vorrede). Dergestalt daß Dialektisches als überall fruchtbare Entzweiung erscheint, daß es die Sphäre der zerstörenden Differenz überall produktiv bewohnt, als Vernichtung des Vergehenswerten im Schoß des Vergehenswerten selber.“ (Bloch, S.290)
Das Negative, die Zerstörung ist hier das gemahlene Korn, das erst zu Mehl zerstoßen wird um dann als Teig zu fermentieren und uns als Brot satt zu machen. Dieser Tod ist gleichzeitig der Garant des Lebens.
Wird das Samenkorn nicht zum Mehl, wird es zur neuen Pflanze, muss aber auch auf diesem Weg als Samenkorn sterben.
Der Tod, der hier beschrieben wird, ist die Nacht, die auf den Tag folgt und dem nächsten Tag voraus geht.
„Jedoch: es wird durch die so behauptete vollkommene Vermittlung des Negativum innerhalb des dialektischen Prozesses, dem Nichts zugleich seine Furchtbarkeit hinweggenommen, das ist jene wie immer schneidende Unvermitteltheit (Disparatheit), von der die älteren Denker des Nichts betroffen waren. Diese Unvermitteltheit beruht gewiß großenteils auf bloßen fixen Reflexionsbestimmungen des Verstands, wie von Hegel angegeben, ist jedoch dadurch nicht erschöpft. Sie lief und läuft in größerer Breite, als panlogistische Dialektik erfassen kann, noch unter und neben dem positiv funktionierenden Negativum her. Eben: es gibt durchaus Saatkorn, das stirbt und keine Fracht bringt. nämlich als zertretenes, ohne irgendeine positive Negation dieser Negation wirklich, gar notwendig danach.“ (Bloch, S.290).
Wenn eine Riesenwelle nach einem Erdbeben Tod und Zerstörung bringt, gibt es keinen wie immer gearteten „Sinn“ in solchem Tod.
Es ist gewissermassen die reine Nacht, der unversöhnte Tod, die pure Vernichtung.
„Hegel selber gibt derart „unaufgelösten Widerspruch“ zu: die ganze Natur er­scheint ihm als einer; und in der Geschichte rechnet auch er den Pelo­pon­nesi­schen Krieg, den Dreißigjährigen Krieg, die indische Witwenverbrennung und so fort keinesfalls unter die produktiven Mächte des Verderbens. Heute hätte er die Todeslager des Faschismus hinzugefügt, die Verbrennungsöfen von Maidanek. Moloch ist auch für Hegel ein Anderes als schaffende Differenz, ein Anderes als Karfreitag, der Ostern bringt. Besonders beachtbar ist eine auffallende Stelle in Hegels Asthetik über das „nur Negative“, das „Negative in sich“, im Zusam­men­hang mit ästhetischem Wert: „Wenn der innere Begriff und Zweck bereits in sich selber nichtig ist, so läßt die schon innere Häßlichkeit noch weniger in seiner äußeren Realität eine echte Schönheit zu … Denn das nur Negative ist über­haupt in sich matt und platt und läßt uns deshalb entweder leer oder stößt uns zurück … Das Grausame, Unglückliche, die Herbigkeit der Gewalt und Härte der Übermacht läßt sich noch in der Vorstellung zusammenschalten und ertragen, wenn es selber durch die gehaltvolle Größe des Charakters und Zwecks gehoben und getragen wird; das Böse als solches aber, Neid, Feigheit und Nieder­trächtig­keit sind nur widrig, der Teufel für sich ist deshalb eine schlechte, ästhetisch unbrauchbare Figur“ (Werke X‘, S. 285). Hegel spricht in diesem Zusammenhang auch vom Negativum an sich als einem „übertünchten Grab“, und nichts Lebendiges entspringt ihm aus dieser puren Nichtigkeit in sich selbst. Wonach hier also das Nichts in seiner alles fressenden Hohlgestalt doch nicht unerinnert bleibt, trotz aller total-dialektischen Vermittlung.„ (Bloch, S.290-S291)
Hegel gibt zu, was sich beim besten Willen nicht leugnen lässt. Zugleich versucht er die Nacht ohne Tag zu banalisieren, in dem er sie für ästhetisch uninteressant erklärt. Ein merkwürdiges Urteil. Macht ihm diese Art von Tod denn keine Angst ? Oder muss er die Augen fest verschliessen, weil sonst die Angst zu stark würde.
„Diese total-dialektische Ver­mittlung ist in Wahrheit nicht nur Triumph der Konkretion über abstrakt fixierte und so voneinander abgehaltene Verstandsbestimmungen; sie ist ebenso ein letzter Triumph säkularisierter Vorsehung, aus dem Geist des Panlogismus. Wobei trotzdem Hegel, in seiner gewaltigen Sachlichkeit nicht umhin kann, das Negativum nicht schlechthin als Gottes Mühle zu feiern. Und nicht schlechthin auch als Positivum, in Hinsicht der Aufhebung und neuen Setzung, die der Widerspruch angeblich an sich bereits bedeutet. Ja, Hegel nimmt am Ende, mit einer verblüffenden, fast manichäischen Wendung, sogar die gesamte Negativum-Schicht aus seinem sonst allvermittelten Pan-Logos heraus; in einer Weise, die dem Nichts gerade keine Heilsökonomie an und durch sich selber zubilligt. Denn nach Hegel können in jeder Sphäre der Weltidee nur affirmative Bestimmungen, also die Thesis und Synthesis, als „Definitionen Gottes“ gelten, nicht aber die negativen Bestimmung der Antithesis, die in der Differenz sind. Die Andersheit und die Endlichkeit, worin das Negativum vorzüglich ausbricht, sind hier der „Unterschied von Gott“ (Enzyklopadie § 83) und ebenso groß wie selbst das fruchtbare Negativum ist zu allerletzt für Hegel „die Unan­ge­messenheit“ des Endlichen, Unvollkommenen zum Vollkommenen, welche das Negativum zum positiven Umschlag bringt, hin zur – wahren für sich seienden Identität. Item, wie angegeben: so wenig ein Idiot, der sich dauernd in Widersprüche verwickelt, deshalb schon ein Dialektiker ist, so wenig kann das „nur Negative“ sich von sich selber in den dialektischen Prozeß hereinziehen. So wenig auch kann es darin, als Heilsdynamik wider Willen und doch gleichsam aus eigenem Willen, ganz schon eingemeindet sein.“ (Bloch, S.290-S291)
Ich erlaube mir als Idiot auch und gerade dem Dialektiker zu mißtrauen. Vor allem wenn die Reise in Richtung einer dialektischen Logik geht.
Wer das Endliche für „Unangemessen“ hält, landet nur wieder im lebens­feind­lichen Felsenmeer ewiger Ideen und „unsterblicher“ Götter.
Leben existiert nur in der Endlichkeit.
Wenn wir dieses Leben wieder in seiner Fülle schätzen wollen, dürfen wir uns nicht länger vom toten griechischen Marmor blenden lassen.
Ich erachte es für mich persönlich als Segen, dass meine Heimat im Reich des gar nicht so unvergänglichen weissen oder roten Sandsteins liegt.
So bleibt mir das Streben nach ewiger Vollkommenheit fremd, das sich im übrigen mit keiner Art von Tod verträgt, weder mit jenem der unser Freund ist, noch mit der Nacht ohne Tag.
Da aber der Tod so oder so Realität ist, führt das Streben nach Vollkommenheit zur Realtätsverleugnung und kann dann in Gestalt von „vollkommen“ sicheren technischen Wunderwerken, wie AKWs, sich mit dem Tod verbünden.
„Vielmehr, wie hier nun spruchreif wird: der Gegenzug ist notwendig, eben nicht wie das Nichts aus der Sucht in der Sehnsucht stammt, aus diesem eigentlichen terminus a quo des Nichtshaften, sondern aus der wirklichen Bewegung der Intention, in das Nichts hinein, durch das Nichts hindurch, hin auf ihr Was. Und erst dieser Gegenzug macht in der völlig ausgebrochenen und so deutlich werdenden Menschen­geschichte das Nichts dialektisch, dadurch daß er es zur Negation seiner selbst gebraucht, dadurch daß er es gerade zur Forttreibung der eigentlichen Was-Bestimmung, Was-Gewinnung zwingt. Die Forttreibung selber, diese Aktivität im da seienden Widerspruch kommt nicht aus dem sich selbst überlassenen Nichts, als welches vielmehr nur zum Abgrund giert. Sie kommt aus der Intensität des Daß-Faktors, der auf dem Weg zu seinem Was wirklich begriffen ist und der im Menschen, sofern er sich als historischer Erzeuger bewußt wird, diesen Weg auch nun wahrhaft-wirklich begreift. Mit der Hoffnung begreift, die als eine Spes militans, Spes docta der leeren Mächtigkeit des Nichts so fern wie nur möglich und so überlegen wie nur immer möglich ist.“ (Bloch, S.290-S291)
Der Tod hört dann auf bloßer Tod zu sein, wenn er Bestandteil des Lebens­pro­zesses ist. Wir Menschen sind nun jener Teil der lebendigen Welt, der über dieses sein Lebendigsein und auch das Eingebettetsein des Todes im Leben reflektieren und philosophieren kann.
Die „Was“ und „Daß“ die hier ganz eigenständig unterwegs sind, verdunkeln allerdings den Fakt, dass es nicht um abstrakte Ideen sondern um endliches und verletzliches Leben geht.
Und dass dieses verletzliche Leben nur in der Endlichkeit existiert und dass deswegen die Versöhnung mit jenem Tod der Teil des Lebens ist, nur relativ sein kann. Zwar erhält sich das Leben im und mit dem Tod.
Aber unsere ganz persönliche Existenz endet.
„Es gibt keine garantierte Umschlagstelle, keinen automatischen Übergang aus dem Nichts der Ent­menschung zum hocherhobenen Haupt. Konträr: das sich selbst überlassene Negativum leitet einzig in das ihm Angestammte: in totalen Un-Sinn, Gegen-Sinn, Wider-Sinn, ins Chaos. Daher wäre mit Leiden allein, ohne Leidenschaft, nie etwas Großes vollbracht worden; daher müßten, um eben ein Exempel aus der aktuell-geschichtlichen Dialektik zu wiederholen, Proletariat und Bourgeoisie zusammen in der kapitalistischen Widerspruchskrise zugrunde gehen, wenn nicht der aktive, der revolutionäre „Widerspruch“ sich dieser Krise annähme. Macht der Gegenzug in der Welt überall erst aus dem Negativum ein Instrument des Umschlags, des Geschehens, der Geschichte, so ist die revolutionäre Selbst­er­grei­fung des Widerspruchs zum erstenmal auch bewußt geschichtsbildend. Und das Ziel, das diesen Gegenzug letzthin hinanzieht, woran er auf dem Weg seinen terminus ad quem hat, ist das utopische Totum das Was. Sein mögliches Alles hat in jedem Sprengpulver gegen das Morbide seinen Vorausgruß, in jeder Freisetzung des besseren Neuen aus der verrottet, er­stik­kend gewordenen Hülle seine Statthalterschaft. Dialektik bezeichnet so den Ostpunkt im Untergangspunkt oder allemal: die Verschlingung des Tods mit dem Sieg. Aber der Ostpunkt im Untergangspunkt wird einzig von der Intention auf ihn hin in dieser seiner Morgenröte erhalten. Nur im Maß, mit dem das utopisch-positive Gewissen wächst und handelt, sich erhellt und der objektiven Mög­lich­keit sich verbindet: nur im gleichen Maß verringern sich die Felder, wo das Negativum nichts als Krisis zum Tod ist. „
Es gibt keinen Grund für Siegesfanfaren. Keine noch so triumphale Dialektik wird den Tod je überwinden. Aber da Tod nicht gleich Tod ist, wäre schon viel gewonnen, wenn wir es schaffen könnten, dass alle am Ende ihrer Zeit lebenssatt den nächsten Generationen Platz machen könnten, statt in der Blüte ihrer Jahre geknickt, gebrochen, ja vernichtet zu werden.
Dabei bedeutet schon die Annäherung an dieses Ziel harte Arbeit.
Das Leben nimmt dem Tod den Stachel.
Aber eben nur jener Tod, der dem Leben dient.
Wenn Goethe im Mephisto den „Teil einer Kraft“ geschaffen hat, die stets das Böse will und doch das Gute schafft, dann hat Goethe statt dem Teufel ein Teufelchen auf die Bühne gebracht.
Er hat geleugnet, dass es das Böse auch als alles zerstörende und vernichtende Kraft gibt, mit der keine Versöhnung möglich ist, weil dieses Böse eben nicht Teil sondern Feind des Lebens ist.
Es gibt einen Tod ohne jedes und gegen jedes Leben, aber es gibt kein Leben ohne Tod.
Und nur dieser Tod ist mit dem Leben verbündet.
Leben heisst auch essen. Essen bedeutet aber immer auch gegessen werden. Tiere aber leben immer von anderem Leben, sie sind nicht in der Lage Leben neu aus anorganischem oder zerfallendem alten Leben zu produzieren.
D.h. ohne zu töten, können Tiere nicht existieren.
Auch wir sind solche Tiere.
Tiere, die in dem Widerspruch leben, dass sie Leben töten um zu leben. Als solche Tiere haben wir nach und nach gelernt, so etwas wie Verstand und Vernunft zu entwickeln und nun müssen wir lernen unserer Fähigkeit zum Töten im Interesse des Lebens strikte Grenzen zu setzen.
Damit gibt es den Tod als notwendigen Teil des Lebens, ohne den es kein Leben gibt, das zu Mehl zermahlene Samenkorn der Mume Mählen und es gibt den Tod als reine Zerstörung, das „zertretene Samenkorn“.
Im Zentrum jeglicher Moral steht daher die Erhaltung und Stärkung des Lebens und der Respekt vor dem Leben.
Ohne diesen Respekt gibt es keine Moral.
Ein zentrales Moment dieses Respekts ist das Gebot „Du sollst nicht töten!“. Dieses Gebot bezieht sich zunächst auf meine Brüder und Schwestern und weitet sich dann aus, bis es die ganze Menschheit einschließt.
Und es wird sicher demnächst auch unsere Brüder und Schwestern Menschenaffen einschliessen müssen.
Vor diesem Hintergrund muss man das „Moralproblem“ bewerten, dass Singer in de Waals „Affen und Philosophen„ zitiert und bei dem es um folgendes gehen soll:
„Obwohl uns die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch hilft, zu überleben und uns fortzupflanzen, konnte sie uns, sobald wir sie einmal entwickelt haben, an Orte führen, die uns evolutionär gesehen keine direkten Vorteile bieten. Die Vernunft ist wie eine Rolltreppe – haben wir sie einmal betreten, können wir nicht von ihr herunter, bis wir dort angekommen sind, wo sie uns hinführt. Die Fähigkeit zu zählen kann nützlich sein, aber sie führt über einen logischen Prozess bis zu den Abstraktionen der höheren Mathematik, die evolutionär gesehen keinen direkten Nutzen abwerfen. Das gilt vielleicht auch für die Fähigkeit, die Perspektive von Smiths unparteiischem Beobachter einzunehmen.
Indem ich an dieser Sicht auf die Bedeutung des Vernunftgebrauchs in der Moral festhalte, unterscheide ich mich von de Waals Auffassung von den Lehren, die wir aus J. D. Greenes bahnbrechendem Werk ziehen sollten, das uns mit bildgebenden neurologischen Verfahren Aufschluss darüber geben soll, was bei moralischen Urteilen passiert. De Waal schreibt:
„Während die Fassadentheorie mit ihrer Betonung der menschlichen Einzig­artig­keit moralisches Problemlösen evolutionsgeschichtlich jungen Ergänzungen unseres Gehirns zuschreiben würde – etwa dem präfrontalen Kortex -, zeigen bildgebende neurologische Verfahren, dass de facto eine Vielzahl von Hirn­a­rea­len daran beteiligt ist, von denen einige extrem alt sind (Greene und Haidt 2002). Kurz gesagt: Die Neurowissenschaften scheinen die Vorstellung zu bestätigen, dass die menschliche Moralität evolutional im Sozialverhalten von Säugetieren verwurzelt ist.“
Um zu verstehen, warum wir nicht diesen Schluss ziehen sollten, brauchen wir ein wenig mehr Informationen darüber, was Greene und seine Kollegen gemacht haben. Mittels bildgebender Verfahren untersuchten sie die Gehirnaktivität, wenn Menschen auf Situationen reagieren, die in der philosophischen Literatur als „Trolley-Probleme“ bezeichnet werden. Beim Standardproblem dieser Art stehen Sie an einem Gleis und bemerken, dass eine unbemannte Güterlore die Schienen entlanggerollt kommt und auf eine Gruppe von fünf Menschen zufährt. Alle werden sterben, wenn das Gefährt seinen Weg fortsetzt. Das Einzige, was Sie tun können, um diese fünf Leben zu retten, besteht darin, einen Weichenhebel umzustellen, wodurch der Trolley auf eine Nebenlinie umgeleitet wird, auf der er nur einen Menschen tötet. Wenn gefragt wird, was man unter diesen Umständen tun sollte, sagen die meisten, dass man den Trolley auf die Nebenstrecke umlei-
ten sollte und daher in der Bilanz vier Menschenleben retten würde.
In einer anderen Version des Problems droht der Trolley wie zuvor fünf Men­schen zu töten. Dieses Mai jedoch stehen Sie nicht am Schienenstrang, sondern auf einer Fußgängerbrücke über der Bahnstrecke. Sie können den Trolley nicht umleiten. Sie überlegen, von der Brücke zu springen, sich vor den Trolley zu werfen und sich selbst zu opfern, um die bedrohten Menschen zu retten, aber Sie erkennen, dass Sie viel zu leicht sind, um den Trolley zu stoppen. Neben Ihnen jedoch steht ein sehr beleibter Fremder. Die einzige Möglichkeit, den Trolley daran zu hindern, fünf Menschen zu töten, besteht darin, diesen beleibten Fremden von der Fußgängerbrücke vor den Trolley zu stoßen. Wenn
Sie den Fremden hinunterstoßen, stirbt er, aber Sie retten die anderen
fünf. Gefragt, was man in dieser Situation tun sollte, sagen die meisten, dass man den Fremden nicht von der Brücke stoßen sollte.
Greene und seine Kollegen sind der Auffassung, dass diese Situationen sich insofern unterscheiden, als sie entweder ein „unpersönliches“ Moment enthalten – wie das Stellen einer Weiche – oder aber eine „persönlich“ zugefügte Verletzung, das Stoßen eines Fremden von einer Brücke. Sie stellten fest, wenn die Probanden in einem der „persönlichen“ Falle entscheiden mussten, waren die Areale des Gehirns. die mit emotionaler Aktivität verknüpft sind, stärker aktiv als in den Fällen, in denen die Probanden aufgefordert waren, ihre Entscheidungen in „unpersönlichen“ Fällen zu treffen. Bedeutsamer noch war, dass die Minder­heit der Probanden, die zu dem Schluss gelangten, dass es richtig wäre, auf eine Weise zu handeln, weiche eine persönliche Verletzung mit einschließt, aber den Gesamtschaden minimiert – beispielsweise jene, die sagten, dass es richtig wäre, den Fremden von der Fußgängerbrücke zu stoßen, mehr Aktivität in den Teilen des Gehirns aufwiesen, die mit kognitiver Aktivität verknüpft sind, und länger brauchten, um zu ihrer Entscheidung zu gelangen, als jene, die zu einem solchen Vorgehen „Nein“ sagten. Mit anderen Worten, wenn wir mit der Notwendigkeit konfrontiert sind, einen anderen Menschen physisch anzugreifen, sind unsere Emotionen mächtig aufgepeitscht, und für manche ist die Tatsache, dass dies die einzige Möglichkeit ist, mehrere Leben zu retten, nicht hinreichend, um diese
Emotionen zu überwinden. Aber jene, die bereit sind, so viele Leben wie möglich zu retten, selbst wenn dies erfordert, einen anderen Menschen zu Tode zu stoßen, scheinen ihre Vernunft zu gebrauchen, um ihren emotionalen Widerstand gegen die persönliche Verletzung zu überwinden, die das Stoßen eines anderen Menschen mit sich bringt.
Untermauert dies den Gedanken, dass die „menschliche Moralität evolutionär in der Sozialität der Säugetiergesellschaft verankert“ ist ? Ja, bis zu einem gewissen Punkt. Die emotionalen Reaktionen, welche die meisten Menschen veranlassen zu sagen, dass es falsch wäre, einen Fremden von einer Fuß­gän­ger­brücke zu stoßen, können in genau jenen evolutionären Begriffen erklärt werden, die de Waal in seinen Vorlesungen entwickelt und mit Material aus seinen Beobachtungen von Primatenverhalten untermauert. Desgleichen ist einfach nachzuvollziehen, dass wir keine ähnlichen Reaktionen auf jemand entwickeln konnten, der einen Weichenhebel umwirft, was ebenfalls zu Tod oder
Verletzung führen kann, jedoch in einiger Entfernung von uns. Während unserer gesamten Evolutionsgeschichte waren wir in der Lage, andere zu verletzen, indem wir sie gewaltsam stießen, aber erst seit ein paar Jahrhunderten – einer viel zu kurzen Zeit, um für unsere evoluierte Natur einen Unterschied zu machen – sind wir in der Lage, andere mittels Handlungen wie dem Umlegen eines Hebels zu schädigen.
Ehe wir dies als Bestätigung von de Waals Argument betrachten, müssen wir jedoch erneut über die Probanden in Greenes Experimenten nachdenken. Sie kamen nach einiger Überlegung zu dem Schluss, dass es richtig sei, einen Weichenhebel zu betätigen, um einen Zug umzuleiten, wodurch zwar eine Person getötet, aber fünf gerettet werden, und dass es genauso richtig sei, eine Person von einer Fußgängerbrücke zu werfen, um eine zu töten. aber fünf zu retten. Dies ist ein Urteil, zu dem andere soziale Säugetiere offenbar nicht fähig sind.
Doch auch dies ist ein moralisches Urteil. Es scheint nicht aus dem evolutionären Erbe hervorzugehen, das wir mit anderen sozialen Säugetieren teilen, sondern aus unserer Fähigkeit zum abwägenden Vernunftgebrauch. Wie die anderen sozialen Säugetiere haben wir automatische, emotionale Reaktionen auf gewisse Arten von Verhalten, und diese Reaktionen bilden einen großen Teil unserer Moralität. Im Gegensatz zu den anderen sozialen Säugetieren können wir über unsere emotionalen Reaktionen nachdenken und uns entscheiden, sie zu verwerfen. Erinnern wir uns an Humphrey Bogarts Bemerkung gegen Ende von Casablanca, wo er, als Rick Blaine, der Frau, die er liebt (Ilsa Lund, gespielt von Ingrid Bergman), sagt, sie solle das Flugzeug neh­men und sich ihrem Mann anschließen: „Edelmut ist nicht meine Stärke, aber man braucht nicht viel, um zu sehen, dass die Probleme von drei kleinen Leutchen in dieser verrückten Welt nur Kleinkram sind.“ Vielleicht braucht es nicht viel, aber es braucht Fähigkeiten, die kein anderes soziales Säugetier besitzt.
Obwohl ich de Waals Bewunderung für David Hume teile, stelle ich fest, dass ich in dieser Sache widerstrebenden Respekt für einen Philosophen entwickle, der oft als Humes großer Gegenspieler betrachtet wird, lmmanuel Kant. Kant war der Auffassung, dass Moral auf Vernunft gegründet sein müsse. nicht auf unsere Wünsche und Emotionen. Zweifellos irrte er in dem Glauben, dass Moral auf Vernunft alleine gegründet werden könne, aber es ist gleichermaßen falsch. Moral nur als eine Frage der emotionalen oder instinktiven Reaktionen zu betrachten, ohne Rückgriff auf unsere Fähigkeit zum kritischen Vernunftgebrauch. Wir müssen die emotionalen Reaktionen, die durch Millionen von Jahren des Lebens in kleinen Stammesgruppen in unsere biologische Natur ein­ge­prägt sind, nicht als unumstößlich hinnehmen. Wir sind fähig zum Ver­nunft­gebrauch und können Entscheidungen treffen, und wir können diese emotionalen Reaktionen ablehnen. Vielleicht tun wir dies nur auf Basis anderer emotionaler Reaktionen, aber an diesem Prozess sind Vernunft und Abstraktionsvermögen beteiligt, und er kann uns, wie de Waal zugesteht, zu einer Moral führen, die unparteischer ist, als es unsere Evolutionsgeschichte als soziale Säugetiere – ohne diesen Vorgang des Vernunftgebrauchs – erlauben würde.“

Das Problem beider Beispiele ist, dass es in diesen Fällen gar kein moralisches Handeln gibt. Die Behauptung, dass man einen töte um fünf zu retten, gehört zum Standardrepertoire der „Entschuldigungen“ eines jeden Mörders.
Und dass Menschen, wenn sie nur einen Hebel umlegen müssen, eher zur Unmoral fähig sind, ist keine neue Erkenntnis.
Einen anderen Menschen zu töten ist und bleibt aber eine unmoralische Handlung, ein Verbrechen, unabhängig davon, welche Rechtfertigung man vor bringen kann.
Im Gegenteil: Es ist ein eigenständiges Verbrechen und zwar ein intellektuelles, wenn man anfängt „Gründe“ auf zu sammeln, um Töten zu rechtfertigen.
Die Botschaft de Waals lautet nun, dass dieses Gebot des „Du sollst nicht töten“ in unserer Instinktstruktur verankert sein soll, was auch erklärt, warum die Hemmung einen Mann von der Brücke zu schmeissen grösser ist, als einen Hebel um zu legen. Denn von dieser Hebel-Problematik konnte unser Instinkt noch nichts wissen, als wir von den Bäumen stiegen.
Wenn aber das „Liebe deinen Nächsten, wie Dich selbst“ ebenso Teil unserer Instinktstruktur ist wie der Drang andere zu beherrschen, dann hat das tiefgehende Konsequenzen, nicht nur für alle möglichen Theorien in Philosophie, Psychologie, Geschichte, Soziologie und Politik, es hat auch tiefgehende Konsequenzen für die Frage welcher Weg uns letzten Endes zur Freiheit führt.
Weil der Drang zum Herrschen und zur Dominanz, einschliesslich Mord und Totschlag und „Krieg“ zwischen benachbarten Horden äffisches Erbe ist, das wir mit den Schimpansen teilen, darum musste nicht erst die „Eigentumsfrage“ relevant werden, um solches Verhalten in menschlichen Gesellschaften auf die Tagesordnung zu setzen.
D.h. Tyrannen und Tyrannei, Raub und Mord sind älter als jedes private Eigentum an Produktionsmitteln.
Als aber die Eigentumsfrage auf die Tagesordnung trat, da stand das ganze Repertoire negativen Verhaltens von Mobbing bis Krieg, schon bereit.
Und die Aussicht auf grosse Gewinne und ein bequemes Leben hat jede Menge zerstörerische Energien frei gesetzt.
Aber auch die Bonobos sind Affen und sie zeigen uns, dass unser äffisches Erbe auch die Fähigkeit zu Liebe und Zuneigung und zur konsequenten Konfliktvermeidung einschliesst. Und es zeigt, daß Freuds Behauptung die Unterdrückung der Sexualität, des Es, sei gewissermaßen der Preis den wir für unsere Kultur zu zahlen haben, Unsinn ist.
Im Gegenteil: Wir benötigen und missbrauchen unsere Vernunft um uns und anderen ein zu reden, es wäre eine gute und moralische Tat, wenn wir morden.
Singer und andere werden uns sogar ein zu reden versuchen, dass wir ohne einen Mord am Tod von fünf Menschen schuld seien. Aber das ist falsch. Es ist die Lore, die tötet und verantwortlich dafür, dass sie das tut, ist der, der vergessen hat die Bremse zu zu drehen. Und auch der, der die Gleise so gelegt hat, dass man nicht seitlich aus dem Gleisbett springen kann.
Das Gebot keine anderen Menschen, keinen Artgenossen um zu bringen ist auch deswegen tief in uns verankert, weil seine Aufkündigung, mit welchen wohl überlegten Gründen auch immer, einen Krieg Aller gegen Alle auslöst, denn „gute Gründe“ finden sich immer. Ein solcher Krieg bedroht aber den sozialen Zusammenhalt und kann sehr leicht zum Tod jeder Gemeinschaft führen. Dieses Problem haben aber auch schon Wölfe und Affen. Und deswegen kennen sie dieses Gebot.
Deswegen gibt es auch keine „gerechten Kriege“, auch wenn es manchmal eine Frage der Gerechtigkeit sein kann, dass man Mörder und Tyrannen mit militärischen Mitteln bekämpft. Man muss immer wissen, dass diese militärischen Mittel, selbst wenn sie für gute Zwecke eingesetzt werden, per se böse sind. Und dass sie die fatale Konsequenz haben auch auf die allerbesten und edelsten Ziele pervertierend zurück zu wirken. Der Krieger bringt den Tod und zwar den Tod als Feind des Lebens, auch wenn er ein guter Krieger ist.
Das Gebot nicht zu töten ist zunächst einmal fest in unseren Instinkten verankert.
Dass sich dann bei Bonobos und Schimpansen und erst recht beim Menschen der Verstand und die Vernunft langsam vom Instinkt lösen, schafft neue Möglichkeiten und Probleme.
U.a. das, dass man trotz seiner Instinkte morden kann. Die „Tiefe der Intentionalität“ trennt uns sicher von jedem Affen. Allerdings verrät sie nichts über unsere Moralität.
Wenn Singer über jene Probanden, die keine Probleme haben einen Mann von einer Brücke zu schmeissen, falls die Begründung stimmt, schreibt: „Dies ist ein Urteil, zu dem andere soziale Säugetiere offenbar nicht fähig sind. Doch auch dies ist ein moralisches Urteil.“ dann ist dies falsch. Es ist die vernunftgeleitete Unmoral zu der wir hier unsere Fähigkeit beweisen.

Andernfalls wäre nämlich selbst Himmlers „Krakauer Rede“ noch ein Dokument moralischen Ringens. Sie steckt übrigens voller Referenzen an Kant.
Singers Ansatz den Verstand über unsere Instinkte zu stellen, steht zwar in einer altehrwürdigen Tradition, aber diese Tradition ist sehr blutig und voller Gewalt, Krieg und Unterdrückung. Jede Knechtschaft beginnt mit der Vergewaltigung unserer Bedürfnisse. Und immer vernehmen wir die Botschaft von der höheren Vernunft, von der göttlichen Idee, die ihre Opfer fordert.
Meistens ist die höhere Idee eine Lüge.
Es gibt nur eine wirklich hohe und verehrungswürdige Idee: Der Respekt vor und die Liebe zum Leben.
Und nur wenn Verstand und Instinkt in dieser Liebe zusammen klingen, entsteht jene Sphärenmusik, die den Tod besiegt oder zumindest seine Härte mildert und uns versöhnt sterben lässt.
Unsere Fähigkeit zum Bösen, d.h. die Fähigkeit uns zum Werkzeug von Tod und Vernichtung zu machen ist kein Resultat tierischer Instinkte.
Seit wir aus dem Paradies vertrieben wurde, wissen wir dank der Schlange was Gut und Böse ist. Tiere fühlen das nur.
Wir können es auch wissen. Wir können aber auch tausend Gründe finden und erfinden, warum unser Gefühl unrecht hat und damit zu Propagandisten höchster Unmoral werden.
Diese Freiheit haben wir.
Gerade unser tierisches Erbe lässt uns diese Freiheit.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Bonobos die direkten Nachfahren jener Waldaffen sind, von denen wir uns vor 5 Millionen Jahren abgesondert haben, dann haben diese uns eine bemerkenswerte Erfindung mit auf den Menschwerdungsweg gegeben:
Sie haben das eher männliche Hierarchie- und Dominanzverhalten im Hegelschen Sinne „aufgehoben“ (nämlich bewahrt und überwunden), in dem sie die Frauen dominieren lassen. Damit wird die Liebe und nicht die Hierarchie zum „dominanten“ Prinzip der Konfliktregulierung.
Das ist neu.
Und dieses Neue ist sofort in Gefahr, sobald die Reviergrösse wächst, weil das Nahrungsangebot schrumpft und damit die notwendige Solidarität der „schwachen“ Frauen gegen die „starken“ Männer nicht mehr garantiert ist.
Aber auch die Nachsicht der „starken“ Männer gegen die „schwachen“ Frauen, die immer zuerst die besten Früchte wollen, übersteht den Hunger und die Not nicht.
So fallen die Schimpansen auf Pavian-Niveau zurück. Da sie aber intelligenter sind als jene, fallen ihnen dabei auch Gemeinheiten ein, auf die ein Pavian nie kommen würde.
So ähnlich kann es auch unseren Vorfahren gegangen sein, bis sie an die südafrikanische Küste kamen und dort, mit dem überreichen Nahrungsangebot aus dem Meer, ein neues Paradies fanden (das alte liegt im Sumpfregenwald der Bonobos).
In den nun wieder kleineren Revieren konnte die Dominanz der Frauen und damit die Dominanz der Liebe über männliche Macht neu entstehen bzw. wieder entdeckt werden.
Und unter anderen, widrigeren Umständen auch wieder verloren gehen.
Und wieder neu entdeckt z.B. mit der Erfindung des Gartens und des Gartenbaus.
Und wieder verloren gehen….
So kann es gewesen sein. Ob es so war, werden andere herausfinden.
Das alles bedeutet aber, dass Liebe und Solidarität mindestens genauso alt und genauso tief in uns verankert sind, wie Hass und Herrschsucht.
Es heisst, dass wir für eine Gesellschaft, in der Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe dominieren, keinen „neuen Menschen“ brauchen. Der alte genügt vollkommen.
Es wird darauf ankommen, welche Seite des „alten Menschen“ zur Geltung kommt.
Der „Oberschimpanse“ oder „Oberpavian“, dem alle Weibchen gehören, weil er die Gruppe beherrscht und der sich deswegen nur wenige Jahre halten kann, bevor ihn einer seiner Rivalen tötet oder auch nur, wenn er Glück hat, von der Spitze vertreibt.
Oder die, bei der wir alle Kinder der einen grossen Mutter sind und uns lieben.
Natürlich wäre die letztere Gesellschaft sehr stark weiblich geprägt.
Aber auch auf die Gefahr hin, dass „Männerrechtler“ mich erneut zum „lila Pudel“ wählen: Ich ziehe es vor, der holden Weiblichkeit Orangen und Ananas zu schenken, statt mich vom Oberaffen beißen oder gar totschlagen zu lassen.
Eine Gesellschaft, die von oben nach unten hierarchisch durch strukturiert ist, pflegt die, die ganz unten sind, die Letzten, immer wieder aus zu spucken. Und als Idiot weiss ich, dass ich manchmal zu diesen Letzten gehöre.
Die Geschichte von Maria und ihrem frühen Tod, erzählt uns davon, welche Art von Gesellschaft wir bekommen (bzw.haben), wenn noch der oder die Vorletzte sich über den oder die Letzte erheben darf und die Schwachen schutzlos sind.
Sie erzählt aber auch davon, wie „kinderleicht“ es ist, dieser Idiotie etwas Besseres entgegen zu setzen. Und wir wünschen uns, dass den Kindern, vor allem aber den kleinen Mädchen, genügend Energien aus der Geschichte mit Myschkin und Maria zu geflossen sind, um auch als Erwachsene solchen Treibjagden zu widerstehen.
Solche grünen Inseln der Liebe und Zuneigung zu schaffen inmitten einer Betonwelt der widerstreitenden Interessen, ist der wesentlichste Baustein eines „richtigen Lebens im falschen“.

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Maria und das Glück

Das nächste Kapitel ist fertig.
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Myschkin erzählt den Jepantschinschen Frauen bei seinem Antrittsbesuch von
seinem früheren Leben und davon, wie glücklich er war, in der Schweiz, in der
Heilanstalt.
Und zur Begründung dieses seines Glückszustandes erzählt er ihnen die
Geschichte von der schwindsüchtigen, krebskranken Maria und den Dorfkindern
und davon wie er diese Dorfkinder von der Feindschaft zur Freundschaft mit
Maria bekehrt hat.
„ »Nun gut«, sagte Adelaida wieder in ihrer hastigen Art. »Aber wenn Sie ein
solcher Kenner von Gesichtern sind, dann sind Sie sicherlich auch verliebt
gewesen; ich habe also richtig vermutet. Erzählen Sie uns also davon!«
»Ich bin nicht verliebt gewesen«, antwortete der Fürst ebenso leise und ernst
wie vorher; »ich … ich war auf andere Weise glücklich.«
»Wie denn? Wodurch denn?«
»Nun gut, ich will es Ihnen erzählen«, sagte der Fürst; er schien in tiefes
Nachdenken versunken zu sein.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19650
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 105)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
„ »Dort … dort gab es viele Kinder, und ich bin die ganze Zeit über mit Kindern
zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren die Kinder jenes Dorfes, eine
ganze Schar, die die Schule besuchte. Unterrichtet habe ich sie nicht, oh nein;
dazu war ein Schullehrer dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und
das gelehrt; größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen zusammen,
und die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte ich
keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu verheimlichen. Ihre
Eltern und Verwandten waren alle auf mich ärgerlich, weil die Kinder zuletzt
ohne mich gar nicht mehr leben konnten und mich immer umdrängten, und der
Schullehrer wurde schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele Feinde, alle
um der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was fürchteten
sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu alles; mich hat oft die
Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinder ken-
nen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern
nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein, und es sei für
sie noch zu früh, dies und jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher
Gedanke! Und wie gut merken es die Kinder selbst, daß die Väter sie für zu klein
und unverständig halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen! Die
Erwachsenen wissen nicht, daß die Kinder selbst in den schwierigsten
Angelegenheiten oft einen sehr guten Rat geben können. Oh Gott, wenn einen
so ein hübsches Vögelchen vertrauensvoll und glücklich anblickt, da schämt man
sich ja, es zu betrügen! Vögelchen nenne ich die Kinder, weil die Vögelchen das
Schönste sind, was es auf der Welt gibt. Übrigens waren alle Leute im Dorf
namentlich wegen eines bestimmten Falles über mich aufgebracht …
Thibaut aber beneidete mich einfach; am Anfang schüttelte er immer den Kopf
und wunderte sich darüber, wie es zuging, daß die Kinder bei mir alles begriffen
und bei ihm fast nichts; aber als ich ihm dann sagte, wir beide könnten sie
nichts lehren, sondern umgekehrt sie uns, da lachte er mich aus. Und wie
mochte er mich nur beneiden und verleumden, da er doch selbst in stetem
Verkehr mit den Kinder lebte! Durch den Verkehr mit Kindern aber wird die
Seele gesund…“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19651-19652
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 106)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Dieses Loblied auf die Weisheit der Kinder erinnert und das sicher nicht zufällig,
an ein anderes Loblied auf die Kinder:
„Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der
Größte im Himmelreich?
Jesus rief ein Kind zu sich und stellte das mitten unter sie
und sprach: Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet
wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.
Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im
Himmelreich.
Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.
Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es
besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer,
da es am tiefsten ist.“
[Luther-Bibel 1912: Das Matthäusevangelium. Die Luther-Bibel, S. 8514
(vgl. Mt 18, 1-6)
http://www.digitale-bibliothek.de/band29.htm ]
Die Perspektive des Kindes wird hier zur höheren moralischen Warte.
Und das Verhältnis zu den Kindern, zu den „Geringsten“, den Schwächsten zum
Prüfstein. „Wer aber ärgert dieser Geringsten einen..“.
Aber nicht nur das, denn: „ Durch den Verkehr mit Kindern aber wird die Seele
gesund“.
Kinder sind der Beginn jeder Art von Moral.
Aus der Sorge um sie sind wir soziale Wesen geworden und sie und der Umgang
mit ihnen sind der wirkliche Masstab dafür, wie gerecht es in einer Gesellschaft
zu geht.
Zugleich war unsere Kindheit, so sie gut war, unser wirklicher Garten Eden und
die Rückkehr dorthin ist das, was wir mit Bloch „Heimat“ nennen.
Und je besser es gelingt dorthin zurück zu kehren, in einen Zustand in dem wir
Halt finden, weil wir wissen, dass wir in der Not von anderen gehalten und
gerettet werden, desto näher sind wir dem Paradies.
Deswegen können durch den Umgang mit Kindern auch kranke Seelen
gesunden.
Myschkins Geschichte geht schließlich so weiter:
„ Die Kinder liebten mich zuerst nicht. Ich war so groß und immer so
unbeholfen; ich weiß, daß ich unschön bin …, dazu kam endlich noch, daß ich
Ausländer war. Die Kinder machten sich anfangs über mich lustig, und dann
fingen sie sogar an, mit Steinen nach mir zu werfen, als sie gesehen hatten, daß
ich Marie küßte. Ich habe sie aber nur ein einziges Mal geküßt … Nein, lachen
Sie nicht!« warf der Fürst hastig ein, um ein Lächeln seiner Zuhörerinnen zu
hemmen, »von Liebe war dabei ganz und gar nicht die Rede. Wenn Sie wüßten,
was für ein unglückliches Geschöpf sie war, würden Sie selbst sie ebenso
bemitleiden, wie ich es tat.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19653
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 107)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Er hat sie geküsst, aber er liebt sie nicht. Sie tut ihm leid. Sollen wir das glauben
? Das können wir glauben, denn wer wie er zu den Ersten und den Letzten
zugleich gehört, muss mitleiden mit den Letzten, denn es sind seine Brüder und
Schwestern. Diese Solidarität ist im wohlverstanden eigenen Interesse.
Trotzdem überrascht wie heftig er sich dagegen wehrt, er könnte auch die Frau
begehrt haben. Wäre das eine Sünde ?
„Sie war aus unserem Dorf. Ihre Mutter war eine alte Frau, die in ihrem kleinen,
ganz baufälligen, zweifenstrigen Häuschen das eine Fenster mit einer Art
Ladentisch versehen hatte; aus diesem Fenster verkaufte sie mit Erlaubnis der
Dorfobrigkeit Schnüre, Zwirn, Tabak, Seife, alles immer für ganz wenige
Groschen, und davon lebte sie. Sie war krank: die Füße waren ihr dauernd
geschwollen, so daß sie immer auf einem Fleck sitzen mußte. Marie war ihre
Tochter, zwanzig Jahre alt, schwächlich und mager; schon längst hatte sich bei
ihr die Schwindsucht zu entwickeln begonnen; aber trotzdem ging sie immer auf
Tagelohn zu schwerer Arbeit in die Häuser: sie scheuerte die Fußböden, wusch
Wäsche, fegte die Höfe und versorgte das Vieh. Ein durchreisender französischer
Kommis verführte sie und nahm sie mit sich fort, ließ sie aber eine Woche darauf
unterwegs im Stich und machte sich heimlich davon. Sich durchbettelnd, kehrte
sie wieder nach Hause zurück, ganz schmutzig, in Lumpen, mit zerrissenen
Schuhen; sie war eine ganze Woche lang zu Fuß gewandert, hatte im Freien
übernachtet und sich stark erkältet; ihre Füße waren wund, die Hände
geschwollen und rissig. Übrigens war sie auch vorher nicht hübsch gewesen; nur
die Augen waren still, gut und unschuldig. Sie war im höchsten Grade
schweigsam. Einmal, noch vor jenem Vorfall, fing sie bei der Arbeit auf einmal
an zu singen, und ich weiß noch, daß alle sich wunderten und zu lachen
anfingen: ›Marie singt! Was stellt das vor? Marie singt!‹ Sie wurde schrecklich
verlegen, und ihr Gesang verstummte dann für ihr ganzes Leben. Damals hatten
die Leute sie noch freundlich behandelt; aber als sie krank und heruntergekommen
zurückgekehrt war, da hatte niemand mit ihr auch nur das geringste
Mitleid. Wie grausam die Menschen in solchen Fällen sind! Was für herzlose
Anschauungen sie von solchen Dingen haben! Als erste empfing die Mutter sie
mit Zorn und Verachtung: ›Du hast mich jetzt entehrt!‹ Sie war auch die erste,
die sie der Schande preisgab: als man im Dorf hörte, daß Marie zurückgekommen
sei, da kamen alle eilig herbeigelaufen, um sie zu sehen, und fast das
ganze Dorf versammelte sich in dem Häuschen der Alten: Greise, Kinder,
Frauen, Mädchen, alle, alle, eine ergrimmte Menge. Marie lag hungrig und
zerlumpt auf dem Fußboden zu den Füßen der Alten und weinte. Als alle
herbeigelaufen kamen, bedeckte sie ihr Gesicht mit dem aufgelösten, wirren
Haar und drückte es gegen den Boden. Alle Umstehenden betrachteten sie, als
ob sie ein Scheusal wäre. Die alten Männer brachen den Stab über sie und
schalten sie, die jungen Leute machten sich sogar über sie lustig, die Frauen
schimpften auf sie und verdammten sie und sahen sie mit solcher Verachtung an
wie eine ekle Spinne.
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19653 – 19655
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 108)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Er hat tatsächlich Angst vor der Liebe, die man auch „Sünde“ nennt. Und er hat
mehr als einen Grund dazu. Das ganze Dorf verachtet Maria, weil sie auch
einmal als Frau begehrt werden wollte, weil sie glücklich sein wollte. Sollte er
versuchen sie erneut glücklich zu machen, wäre ihm und ihr die allgemeine
Verachtung sicher.
Und eine zweite Sünde wartet auf ihn, denn wie der Hausierer würde er sie
sicher nicht für immer, sondern nur für eine Nacht begehren und damit,
vielleicht, – dazu müssten wir Maria fragen -, ein sowieso schon erniedrigtes und
beleidigtes Wesen noch mehr erniedrigen.
Aber warum verachtet ein ganzes Dorf eine arme Frau, die nichts anderes
versucht hat als einmal im Leben glücklich zu sein ?
„Die Mutter ließ das alles geschehen, saß selbst dabei, nickte mit dem Kopf und
billigte diese Roheiten. Die Mutter war damals schon sehr krank und dem Tode
nahe (zwei Monate darauf starb sie auch wirklich); sie wußte, daß sie bald
sterben werde, wollte sich aber trotzdem bis zu ihrem Tod nicht mit ihrer
Tochter versöhnen; sie redete sogar kein Wort mit ihr, jagte sie zum Schlafen
auf den Flur hinaus und gab ihr fast nichts zu essen. Sie mußte ihre kranken
Füße oft in warmes Wasser stellen; Marie wusch sie ihr alle Tage und versorgte
ihre Mutter; aber diese nahm alle Dienstleistungen der Tochter schweigend hin,
ohne ihr auch nur ein einziges freundliches Wort zu sagen. Marie ertrug alles,
und als ich dann später mit ihr bekannt wurde, nahm ich wahr, daß sie diese
Behandlung sogar selbst für gerecht erachtete und sich selbst für das
allerschlechteste Geschöpf hielt. Als die Mutter dauernd an das Bett gefesselt
war, kamen die alten Frauen des Dorfes der Reihe nach zu ihr, um sie zu
pflegen; das ist dort so Sitte. Nun bekam Marie überhaupt nichts mehr zu essen;
im Dorf aber jagten alle Leute sie fort, und nicht einmal Arbeit wollte ihr jemand
geben. Alle behandelten sie wie eine Verworfene, und die Männer betrachteten
sie gar nicht mehr als Weib, solche unflätigen Schimpfworte gebrauchten sie ihr
gegenüber. Manchmal, indes nur sehr selten, warfen sie ihr, wenn sie sich
sonntags betrunken hatten, des Spaßes halber ein paar Groschen hin, einfach
auf die Erde, und Marie hob sie schweigend auf. „
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19655 – 19656
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 108-109)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Franz de Waals erzählt uns in „Der Affe in uns“ (S.221-223) folgende
Geschichte:
„Sündenböcke
Der Sieg hat hundert Väter, die Niederlage aber ist eine Waise, sagt man. Die
Verantwortung für etwas zu übernehmen, was schiefgegangen ist, zählt nicht zu
unseren Stärken. In der Politik betrachten wir Schuldzuweisungen als normal. Da
niemand die Schuld gern vor seiner Haustüre hat, tendiert sie zur Wanderschaft.
Das ist eine unschöne Weise der Konfliktlösung: statt zu vermitteln, zu
versöhnen und zu feiern, werden die Probleme, die an der Spitze entstehen,
nach unten durchgereicht.
Jede Gesellschaft hat ihre Sündenböcke, die extremsten Fälle aber beobachtete
ich bei neugegründeten Makakengruppen. Bei diesen Tieraffen gibt es strenge
Hierarchien, und während die weiter oben auf der Leiter ihre Rangordnung
festlegten – was ziemlich unangenehm werden kann -, war für sie nichts
einfacher, als sich en masse gegen die Armen am unteren Ende zu wenden. Ein
Weibchen namens Black wurde so oft attackiert, daß die Ecke, in die es
sich flüchtete, bei uns nur noch „Blacks Corner“ hieß. Dort kauerte Black,
während der Rest der Gruppe sich um sie scharte, wobei meistens nur gegrunzt
und gedroht wurde; manchmal wurde Black aber auch gebissen oder bekam
händeweise Haare ausgerissen.
Was den Umgang mit Primaten angeht, hat es meiner Erfahrung nach keinen
Zweck, der Versuchung nachzugeben, den Sündenbock aus der Gruppe zu
entfernen: schon am nächsten Tag hatte ein anderes Individuum seinen Platz
eingenommen. Offensichtlich braucht man ein Auffangbecken für Spannungen.
Aber als Black ihr erstes Junges bekam, veränderte sich alles, denn das
Alphamännchen schützte den Säugling. Der Rest der Gruppe weitete die
Animositäten gegenüber Black auf deren ganze Familie aus, also wurde auch
dieses kleine Affenbaby bedroht und angegrunzt, doch dank des Schutzes von
höchster Stelle hatte es nichts zu fürchten und war von dem ganzen Theater nur
ziemlich irritiert. Black gewöhnte sich bald an, in der Nähe ihres Sohnes zu
bleiben, wenn Probleme auftauchten, denn dann wagte niemand, gegen sie
handgreiflich zu werden.
Sündenböcke sind so effizient, weil sie ein zweischneidiges Schwert darstellen.
Erstens löst ein Sündenbock Spannungen zwischen dominanten Individuen.
Einen unschuldigen, harmlosen Außenstehenden zu attackieren ist für sie
eindeutig weniger riskant, als sich gegenseitig anzugreifen. Zweitens scharen
sich so die Höherrangigen um eine gemeinsame Sache. Während sie dem
Sündenbock drohen, binden sie sich aneinander, manchmal umarmen oder
besteigen sie sich auch, womit sie zeigen, daß ihre Reihen fest geschlossen sind.
Natürlich ist das eine reine Farce: Primaten suchen sich oft Feinde, die kaum
Probleme bereiten. Bei einer Gruppe von Tieraffen pflegten alle Mitglieder zum
Wasserbassin zu stürmen und ihre eigenen Spiegelbilder zu bedrohen. Im
Gegensatz zu Menschen und Menschenaffen erkennen sich Tieraffen in ihren
Spiegelbildern nicht wieder, und so hatte diese Gruppe Feinde gefunden, die sich
bequemerweise nicht wehrten. Die Schimpansen von Arnheim hatten ein
anderes Ventil. Wenn bei ihnen Spannungen bis zum kritischen Punkt
eskalierten, begann einer von ihnen in Richtung der Löwen und Geparden im angrenzenden
Safaripark zu bellen. Die Großkatzen waren perfekte Feinde. Bald
bellte die gesamte Kolonie mit „Wraaa!“ aus vollem Hals diese gräßlichen Bestien
an, vor denen sie, durch einen Graben, einen Zaun und einen Streifen Wald
getrennt, sicher waren. Die Spannungen waren bald vergessen.
In einer gut etablierten Gruppe gibt es in der Regei kein bestimmtes Individuum,
das immer wieder in die Ecke gejagt wird. Vielmehr ist das Fehlen eines
Prügelknaben ein sicheres Anzeichen, daß die Hierarchiefragen geklärt sind. Aber
die Transposition von Aggressionen, wie Fachleute das nennen, muß nicht notwendigerweise
bis zur untersten Stufe der sozialen Leiter fortgesetzt werden.
Alpha droht Beta, und der schaut sich sofort nach Gamma um. Dann droht Beta
Gamma und schielt gleichzeitig nach Alpha, denn für ihn wäre es ideal, wenn
jetzt Alpha für Beta Partei ergriffe. Die Transposition von Aggressionen kann
über vier bis fünf Stufen weitergehen, bis sie schließlich im Sand verläuft.
Die Intensität der Aggressionen ist oft gering – ungefähr das Äquivalent von
Schimpfworten oder Türen schlagen -, erlaubt den Höherrangigen aber noch
immer, Dampf abzulassen. Und alle Gruppenmitglieder wissen, was da vor sich
geht: bei den ersten Anzeichen von Spannungen an der Spitze gehen die
Untergeordneten in Deckung.
Der Ausdruck „Sünenbock“ geht auf das Alte Testament zurück. Bei den
Feierlichkeiten am Versöhnungstag wurde zunächst ein Ziegenbock geopfert, ein
zweiter aber kam mit dem Leben davon. Auf ihn übertrug man symbolisch alle
Sünden des Volkes, und dann schickte man ihn buchstäblich in die Wüste. Auf
diese Weise befreiten sich die Menschen von Schuld. Ähnlich nennt das Neue
Testament Jesus „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt“
(Johannes 1:29).
Modernen Sündenböcken gibt man die Schuld für etwas, was sie gar nicht zu
verantworten haben; sie werden dämonisiert und verfolgt. Das gräßchste
Beispiel der Menschheitsgeschichte dafür lieferte der Holocaust, aber es gibt
noch ein ganzes Spektrum weiterer Möglichkeiten, auf Kosten anderer Dampf
abzulassen, beispielsweise die Hexenverfolgungen im Mittelalter, Vandalismus
durch Fans unterlegener Sportmannschaften und das Verprügeln von Ehefrauen
nach Konflikten am Arbeitsplatz. Und die Hauptmerkmale dieses Verhaltens – die
Unschuld des Opfers und das Lösen von Spannungen durch Gewalt – sind bei
Menschen und anderen Tieren verblüffend ähnlich.“
Soweit de Waals.
Es ist eine sehr grausame Welt, diese Welt der Hierarchien und der Hierarchen.
In dieser Welt gibt es immer jemand und muss es mit Notwendigkeit immer
jemand geben, der am unteren Ende der Leiter steht.
Und dem oder der geht es schlecht, denn die „Schwachen und Kranken müssen
zugrunde gehen und man soll ihnen dazu helfen.“(Nietzsche,Antichrist).
Man täte den Affen unrecht, wenn man Nietzsche eine Affenmoral unterstellen
würde, denn immerhin rettet der Oberaffe in diesem Fall die Situation, in dem er
mit dem rangniedrigsten Weibchen schläft. Damit macht er die Letzte zur Frau
des Ersten und rettet sie dadurch.
Überhaupt scheinen die Affengruppen ihre Methoden zu haben, diese mörderische
Konsequenz von Hierarchien ab zu mildern. Die einfachste Methode dafür
ist, dass sich einer von den Ersten schützend vor die Letzten stellt.
Das meint auch der berühmte Satz: „Was ihr getan habt einem der Geringsten,
das habt ihr mir getan !“. Der Schullehrer und der Pfarrer, als die 2
Dorfintellektuellen in der örtlichen Hierarchie eher „oben“ zu Hause, denken gar
nicht daran Maria zu schützen, sondern sie hetzen am Schlimmsten.
Deswegen gibt es für Maria keine Rettung:
„Sie fing schon damals an, Blut zu husten. Schließlich waren ihre Lumpen schon
vollständig zu Fetzen geworden, so daß sie sich schämte, sich im Dorf blicken zu
lassen; barfuß ging sie schon von ihrer Heimkehr an. Da begann die ganze
Kinderschar (es waren über vierzig Schulkinder) sie zu verhöhnen und sogar mit
Schmutz nach ihr zu werfen. Sie bat den Hirten, er möchte ihr erlauben, die
Kühe zu hüten; aber der Hirt jagte sie weg. Da fing sie an, ohne seine Erlaubnis
mit der Herde auf den ganzen Tag auszuziehen. Da sie dem Hirten sehr viel
Nutzen brachte und er dies bemerkte, so trieb er sie nun nicht mehr fort und
gab ihr sogar manchmal die Überreste seines Mittagessens, Brot und Käse. Er
hielt das für eine große Gnade von seiner Seite. Als die Mutter gestorben war,
schämte sich der Pastor nicht, Marie in der Kirche vor allem Volk an den Pranger
zu stellen. Marie stand, so wie sie war, in ihren Lumpen, am Sarg. Es hatten sich
eine Menge Leute eingefunden, um zu sehen, wie sie weinen und hinter dem
Sarg hergehen werde; da wandte sich der Pastor (er war noch ein junger Mann,
und sein ganzer Ehrgeiz ging darauf, ein großer Prediger zu werden) an alle
Anwesenden und zeigte auf Marie. ›Die ist es, die an dem Tod dieser
achtenswerten Frau die Schuld trägt‹ (das war unwahr, da die Mutter schon seit
zwei Jahren krank gewesen war); ›da steht sie vor euch und wagt nicht
aufzublicken, weil Gottes Finger sie gezeichnet hat; da ist sie nun, barfuß und in
Lumpen, ein abschreckendes Beispiel für diejenigen, die vom Pfad der Tugend
abirren möchten! Und wer ist es? Es ist ihre eigene Tochter!‹, und in dieser Art
immer weiter.
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19656 – 19657
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 109-110)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Wenn man sich diesen Prediger in all seiner Arroganz vor Augen führt, kann man
nur mit Matthäus antworten:
„ Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es
besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer,
da es am tiefsten ist.“
[Luther-Bibel 1912: Das Matthäusevangelium. Die Luther-Bibel, S. 8514
(vgl. Mt 18, 1-6)
http://www.digitale-bibliothek.de/band29.htm ]
„Und denken Sie sich: diese Gemeinheit gefiel fast allen; aber … nun ereignete
sich etwas ganz Besonderes: die Kinder traten für Marie ein; denn zu dieser Zeit
waren die Kinder alle schon auf meiner Seite und hatten Marie liebgewonnen.
Das war so zugegangen. Ich wollte gern etwas für Marie tun; es war dringend
nötig, daß ihr jemand Geld gab; aber Geld hatte ich dort nie auch nur eine
Kopeke in meinem Besitz. Ich hatte eine kleine Brillantnadel; die verkaufte ich
an einen Trödler, der in den Dörfern herumzog und mit alten Kleidern handelte.
Er gab mir dafür acht Franken, obwohl sie gut vierzig wert war. Lange Zeit
bemühte ich mich, Marie allein zu treffen; endlich begegneten wir einander
außerhalb des Dorfes, an einem Zaun, auf einem Seitenpfad, der in die Berge
führte, bei einem Baum. Dort gab ich ihr die acht Franken und sagte ihr, sie
möchte damit sparsam umgehen, da ich nicht mehr hätte; und dann küßte ich
sie und sagte, sie solle nicht denken, daß ich irgendwelche unlautere Absicht
hätte; ich hätte sie nicht etwa geküßt, weil ich in sie verliebt wäre, sondern weil
sie mir sehr leid täte und ich sie gleich von Anfang an durchaus nicht für eine
Schuldbeladene, sondern nur für eine Unglückliche gehalten hätte. Ich wollte sie
gern gleich bei dieser Begegnung trösten und ihr deutlich machen, daß sie sich
gar nicht für soviel schlechter als alle zu halten brauche; aber sie schien das gar
nicht zu verstehen. Ich merkte das gleich, obwohl sie fast die ganze Zeit über
schwieg und mit niedergeschlagenen Augen vor mir stand und sich furchtbar
schämte. Als ich zu Ende war, küßte sie mir die Hand, und ich griff sofort nach
der ihrigen und wollte sie ihr küssen; aber sie zog sie schnell weg. In diesem
Augenblick erspähten uns auf einmal die Kinder, ein ganzer Schwarm; ich erfuhr
später, daß sie mir schon lange nachspioniert hatten. Sie fingen an zu pfeifen, in
die Hände zu klatschen und zu lachen; Marie aber lief eiligst davon. Ich wollte zu
den Kindern etwas sagen; aber sie warfen nach mir mit Steinen. Noch an
demselben Tag erfuhren alle, was vorgefallen war, das ganze Dorf; alle fielen sie
wieder über Marie her und wurden ihr noch mehr feind. Ich hörte sogar, daß
man vorhatte, sie zu einer Strafe zu verurteilen; indes ging das, Gott sei Dank,
noch so vorüber. Aber dafür ließen ihr die Kinder gar keine Ruhe mehr; sie
verhöhnten sie noch ärger als vorher und bewarfen sie mit Schmutz; sie jagten
ihr nach, und sie floh dann vor ihnen mit ihrer schwachen Brust, ganz außer
Atem, und die Kinder schreiend und schimpfend hinter ihr her. Einmal begann
ich sogar, mich mit ihnen herumzuschlagen. Dann versuchte ich mit ihnen zu
reden und redete zu ihnen jeden Tag, sooft ich nur dazu die Möglichkeit hatte.
Manchmal blieben sie stehen und hörten zu, obwohl sie immer noch schimpften.
Ich erzählte ihnen, wie unglücklich Marie sei; bald hörten sie denn auch auf zu
schimpfen und gingen schweigend fort. Allmählich kam es dazu, daß wir
miteinander Gespräche führten; ich verheimlichte ihnen nichts, sondern erzählte
ihnen alles. Sie hörten sehr neugierig zu und begannen bald, Marie zu
bemitleiden. Einzelne fingen an, wenn sie ihr begegneten, sie freundlich zu
grüßen; es ist dort Sitte, wenn man einander begegnet, ob man sich nun kennt
oder nicht, sich zu grüßen und guten Tag zu sagen. Ich kann mir vorstellen, wie
erstaunt Marie darüber war. Eines Tages verschafften sich zwei kleine Mädchen
etwas Essen, trugen es ihr hin, gaben es ihr und kamen dann zu mir, um es mir
zu sagen. Sie erzählten mir, Marie habe geweint, und sie hätten sie jetzt sehr
lieb. Bald fingen alle an, sie liebzuhaben, und gleichzeitig auf einmal auch mich.
Sie kamen nun oft zu mir und baten immer, ich möchte ihnen etwas erzählen;
ich muß wohl gut erzählt haben, weil sie mir sehr gern zuhörten. In der Folgezeit
lernte und las ich immer nur in der Absicht, es ihnen nachher zu erzählen, und
so habe ich ihnen in den ganzen nächsten drei Jahren immer etwas erzählt. Als
mir dann alle, auch Schneider, Vorwürfe darüber machten, daß ich mit den
Kindern wie mit Erwachsenen spräche und ihnen nichts verheimlichte,
antwortete ich ihnen, man müsse sich schämen, den Kindern etwas vorzulügen;
sie erführen ja doch alles, wie sehr man es ihnen auch zu verbergen suche, und
erführen es vielleicht auf eine häßliche Weise; wenn sie es aber von mir hörten,
so sei das nicht der Fall. Ein jeder brauche sich nur an seine eigene Kindheit zu
erinnern. Aber sie stimmten mir nicht bei …“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19658 – 19661
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 110-112)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Hierarchie produziert Gewinner und Verlierer. Und es ist ein grausames Schicksal
bei den Verlierern zu sein. Das ist bei Menschen nicht anders als bei Affen. Aber
es gibt ein Gegenmittel gegen diese Grausamkeit. Dieses Gegenmittel heisst
Liebe, Zuneigung, Vertrauen. Das ist es, was er die Kinder lehrt. Und sie
verstehen es. Zwei kleine Mädchen als erste. Das ist wenig überraschend, denn
Hierarchiebildung ist schon bei Schimpansen ein sehr männliches Geschäft.
Im übrigen auch ein teures Geschäft, den Schimpansenhorden haben in der
Regel einen Frauenüberschuss.
Schimpansenmänner bringen sich gegenseitig um. Ausserdem müssen sie, je
höher sie steigen, je mehr befürchten tief zu fallen. Das strengt an, das
produziert jede Menge Stress und deswegen werden Schimpansenmänner nicht
so alt wie Schimpansenfrauen.
Die Gegenwelt dazu finden wir bei den Bonobos mit ihrem Matriarchat und ihrem
Grundsatz sich im Zweifel lieber einmal mehr zu lieben als zu erschlagen.
Aber hören wir dazu wieder Franz de Waals:
„Bei denen, die mit Bonobos arbeiten, haben sich das Schockiertsein und die
Ungläubigkeit der Anfangsjahre abgenutzt. Wir haben uns an die auf dem Kopf
stehende Geschlechterordnung so sehr gewöhnt, daß wir uns noch nicht einmal
vorstellen würden, es könnte sich anders verhalten. Es kommt uns ganz
natürlich vor.
Die Skeptiker schaffen es offensichtlich nicht, sich davon freizumachen, wie es
bei unserer eigenen Spezies zugeht. Während der Lesereise für mein Buch
Bonobos: Die zärtlichen Menschenaffen war der Höhepunkt – oder vielleicht der
Tiefpunkt – eine Frage, die ein höchst angesehener deutscher Biologieprofessor
stellte. Nach meinem Vortrag stand er auf und bellte in fast anklagendem Ton:
„Was ist mit diesen Männchen nicht in Ordnung?!“ Das weibliche Dominanzverhalten
schockierte ihn. Ich bin umgekehrt schon immer der Ansicht, daß sich
Bonobomänner angesichts der reichlichen sexuellen Aktivitat der Bonobos und
des niedrigen Aggressionsniveaus eigentlich nicht viel beklagen können. Man
sollte meinen, daß sie weniger Streß haben als ihre Menschen- und Schimpansenvettern.
Meine Antwort an den Professor – daß es den Bonobomännern
anscheinend ganz gut gehe – schien ihn jedoch nicht zu befriedigen. Dieser
Menschenaffe erschüttert unsere Überzeugungen hinsichtlich unserer Herkunft
und unseres Verhaltens in den Grundfesten.
Was ist also so gut daran, ein Bonobomann zu sein? Zum einen ist das Verhältnis
zwischen männlichen und weiblichen Individuen bei wildlebenden
Bonobos fast eins zu eins. Ihre Gesellschaft setzt sich aus gleich vielen
Angehörigen beider Geschlechter zusammen, wohingegen Schimpansengesellschaften
oftmals doppelt so viele Frauen wie Männer aufweisen. Da beide
Arten bei der Geburt ein Geschlechterverhältnis von eins zu eins haben und da
es außerhalb der Gruppen keine umherziehenden männlichen Einzelgänger gibt,
muß die Sterblichkeit unter Schimpansenmänner außerordentlich hoch sein. Das
überrascht kaum, wenn man bedenkt, wieviel Krieg zwischen konkurrierenden
Gemeinschaften dieser Spezies geführt wird und wieviel Verletzungen und Streß
aus den ständigen Machtkämpfen resultieren. Unter dem Strich kommt heraus,
daß Bonobomänner länger und gesünder leben als ihre Macho-Vettern.
Eine Weile hatte man angenommen, Bonobos hätten eine Familienstruktur wie
wir: Erwachsene Männer, so fand man, unterhielten stabile Bindungen zu
bestimmten Bonobofrauen. Endlich ein Menschenaffe, der uns die Ursprünge der
Monogamie erhellt, glaubten wir. Doch dann erfuhren wir dank der gründlichen
Feldforschung von Kano und anderen, daß dies in Wirklichkeit Bindungen zwischen
Müttern und Söhnen waren. Ein erwachsener Bonobomann folgt seiner
Mutter durch den Wald und profitiert von ihrer Zuwendung und ihrem Schutz –
vor allem wenn sie einen hohen Status hat. Faktisch ist die Hierarchie der
Bonobomänner eine matriarchalische. Statt unter ihresgleichen ständig
wechselnde Koalitionen zu bilden. wetteifern sie an den Schürzenzipfeln ihrer
Mütter um Positionen.
Ein typisches Beispiel dafür ist Kame, ein wildes Alphaweibchen, die nicht weniger
als drei erwachsene Söhne hatte, von denen der älteste das Alphamännchen
war. Als Kame im Alter schwächer wurde, zögerte sie, ihre Kinder zu verteidigen.
Der Sohn des Betaweibchens muß das gemerkt haben, denn er begann
Karnes Söhne herauszufordern. Seine eigene Mutter unterstützte ihn dabei und
schreckte nicht davor zurück, in diesem Rahmen auch das Alphamännchen zu
attackieren. Die Reibereien eskalierten, bis die beiden Mütter sich schlugen und
auf dem Boden herumwälzten, wobei das Betaweibchen Kame niederrang. Von
dieser Erniedrigung erholte sich Kame nie wieder, und bald fielen ihre Söhne auf
mittlere Ränge zurück. Nach Karnes Tod wurden sie ganz an den Rand verdrängt,
und die Söhne des neuen Alphaweibchens nahmen die Spitzenpositionen
ein.
Hätte es sich um Schimpansen gehandelt, hätten Karnes Söhne sich zusammen
geschlossen, um ihre Positionen zu verteidigen.Bei Bonobos jedoch sind
männliche Allianzen nur schwach ausgebildet, und genau das erlaubt es den
Bonobofrauen, sich so stark durchzusetzen. Auch wenn sie selten sind, straft die
Beobachtung solcher Machtkämpfe die Vorstellung Lügen, daß die Bonobogesellschaft
durch und durch egalitär sei. Spannungen gibt es durchaus, die
Männer konkurrieren stark miteinander, und auch bei den Frauen kommt das
vor. Ein hoher Rang scheint sich in erheblichem Maß auszuzahlen. Weil die
Bonobofrauen ihnen gegenüber toleranter sind, finden Männer an der Spitze
leichter Zugang zu Nahrungsmitteln, und sie haben auch mehr Sexualpartnerinnen.
Das heißt, wenn es einer Mutter gelingt, einen Sohn in die höheren
Ränge zu bringen, dann fördert sie ihre Nachkommenschaft mittels der Enkel,
die er zeugt. Die Bonobos verstehen diesen Zusammenhang natürlich nicht, aber
die natürliche Auslese muß Mütter gefördert haben, die das Statusstreben ihrer
Söhne aktiv unterstützten.
Bedeutet das, daß die Bonobogesellschaft im Grunde eine umgekehrte Schimpansengesellschaft
ist? Kaum. Meiner Ansicht nach ist der Schimpanse weit eher
ein zoon politikon (politisches Tier).
Das hat mit der Art und Weise zu tun, wie Koalitionen gebildet werden, und auch
mit der Andersartigkeit der weiblichen Hierarchie. Sowohl bei den beiden
Menschenaffenarten als auch bei Menschen wird die weibliche Hierarchie weniger
angefochten und muß daher auch nicht so stark durchgesetzt werden. Frauen
denken, wenn es um sie selbst geht, weniger in Hierarchien, und ihre Beziehungen
sind nie so förmlich wie die zwischen Männern.
Zweifellos aber gibt es Frauen, die mehr Respekt erheischen als andere. Es
Kommt weit häufiger vor, daß ältere Frauen jüngere dominieren als umgekehrt.
Innerhalb derselben sozialen Schicht scheinen ältere Frauen das Sagen zu
haben. Traditionellerweise üben Frauen ihren größten Einfluß im Rahmen der
Familie aus, wo sie sich nicht an die Spitze kämpfen, bluffen oder renommieren
müssen. Dorthin gelangen sie einfach mit dem Älterwerden. Persönlichkeit,
Bildung und Familiengröße sind sicherlich wichtige Faktoren, und es gibt viele
subtile Formen, wie Frauen miteinander konkurrieren können, aber wenn sonst
sämtliche Bedingungen gleich sind, ist das Alter schon die halbe Miete, wenn es
um die Position einer Frau unter anderen Frauen geht.
Auf Menschenaffen trifft dasselbe zu. In freier Wildbahn halten die älteren Frauen
die jüngeren, die frisch von außen zur Gruppe stoßen, unter der Knute. Mit
der Pubertät verlassen die weiblichen Individuen ihre Gemeinschaft und
schlieBen sich einer anderen an. Schimpansinnen müssen sich auf dem
Territorium ihrer neuen Gruppe selbst einen Platz erobern, und das oft in
Konkurrenz zu den schon dazugehörigen Schimpansinnen. Junge Bonobofrauen
mit ihren engeren weiblichen Bindungen suchen sich eine „Sponsorin“ unter den
dazugehörigen, groomen sie und haben Sex mit ihr, woraufhin die ältere die
jüngere unter ihre Fittiche nimmt und sie beschützt. Im Lauf der Zeit wird die
junge Bonobofrau selbst zur Sponsorin neuer Zuwandererinnen, und so schließt
sich der Kreis. Auch dieses System tendiert zum Senioritatsprinzip. Selbst
wenn weibliche Hierarchien nicht perfekt nach dem Alter gestaffelt sind, erklärt
sich daraus doch ein gutes Stück weit ihre Sozialordnung.
Dominanzkämpfe zwischen weiblichen Menschenaffen sind weit seltener als
zwischen männlichen. Und wenn es dazu kommt, spielen sie sich immer unter
weiblichen Individuen derselben Altersstufe ab. In einer Gruppe, der über dreißig
Jahre alte Frauen angehören, wird man niemals eine zwanzigjährige an der
Spitze finden. Das hat nichts mit physischer Stärke zu tun – die ist bei einer
Zwanzigjährigen am größten -, vielmehr scheint es jüngeren Frauen völlig an der
Willenskraft zu fehlen, eine der erfahrenen, abgebrühten älteren Damen
herauszufordern. Ich kenne Alphaweibchen, deren Position über Jahrzehnte nicht
angetastet wurde. Natürlich gibt es eine Obergrenze, wie lange sich eine Menschenaffenfrau
an der Macht halten kann, die sowohl von ihrer körperlichen als
auch von ihrer geistigen Gesundheit abhängt, aber Frauen erreichen diesen
Punkt erst Jahrzehnte nach den Männern.
Wie altere Frauen die jüngeren in ihre Schranken verweisen, ist faszinierend,
denn die meiste Zeit geschieht das ohne offene Aggression. Da die Jüngeren,
deren eigene Mutter nicht mehr zugegen sind, die Älteren als Mutterfiguren
betrachten, müssen letztere, um ein Signal zu setzen, nichts weiter tun, als ein
Vorspiel abzulehnen, nichts von ihrem Fressen abzugeben oder bei einem
Groomversuch sich umzudrehen und wegzugehen. Die ältere Frau zieht die
emotionalen Daumenschrauben an. Vielleicht kriegt die jüngere dann einen
Wutanfall, aber die ältere betrachtet das Schauspiel ungerührt: So etwas hat sie
schon öfter gesehen. Die Gründe für eine Abfuhr sind oft minimal. Auch Stunden
nachdem die Jüngere einen Nachkommen der Älteren gezwickt, sich ein Stück
Nahrung genommen hat, das die Ältere haben wollte, oder nicht vom Alphamännchen
gewichen ist, als die Ältere ihn groomen wollte, wird die Jüngere
möglicherweise noch zurückgewiesen. Für menschliche Beobachter jedenfalls
sind die weiblichen Interaktionen ganz eindeutig schwerer mitzuverfolgen als die
direkten Konfrontationen unter den Männern.
Da männliche Dominanz auf Kampfkraft und Unterstützung durch Freunde
basiert, wirkt sich das Alter ganz anders auf männliche Hierarchien aus. Älter zu
werden ist für männliche Wesen niemals von Vorteil. „
(Franz de Waals „Der Affe in uns“ (S.93-97))
Soweit de Waals.
Wenn Liebe und Hierarchiebildung die beiden hauptsächlich Verfahren sind, um
bei sozialen Tieren einen selbstmörderischen Kampf aller gegen alle zu
verhindern, dann zeigen die Bonobos, dass Liebe durchaus das überlegene
Prinzip sein kann. Dass dadurch das weibliche Geschlecht auch dominant wird,
ist für die Männer nicht von Nachteil. Sie führen ein besseres Leben als
Schimpansenmänner.
Zugleich ist es ziemlich merkwürdig, dass nach den Moralmasstäben des 19. und
des 20. Jahrhunderts das Verhalten der Bonobos als höchst unmoralisch zu
gelten hätte, während kriegsführende Schimpansen sehr gut zu den
kriegführenden Staaten und den Krieg verherrlichenden Philosophen jener Zeit
passen.
Selbst de Waals spricht noch von „Schockiertsein“ in Bezug auf die Bonobos, so
als wäre die Existenz von Heimtücke, Mord und Totschlag bei den Schimpansen
nicht wesentlich schockierender als das fröhliche Ducheinandervögeln der
Bonobos.
Myschkin scheint auch deswegen Irritationen bei der Dorfobrigkeit und selbst bei
Schneider aus zu lösen, weil er mit den Kindern „ wie mit Erwachsenen spräche
und ihnen nichts verheimlichte“. Es ist ein seltsames Moralempfinden, das sich
regt, wenn ein Idiot, wie Myschkin, den Kindern erklärt, dass Liebe auch eine
körperliche Seite hat, – er, der doch mit seinem eigenen Körper genügend
Probleme hat – , während es stumm bleibt, wenn eine Frau zu Tode gehetzt
wird. Ja es ist sogar noch schlimmer: Der gewissermassen amtliche Vertreter
von Gewissen und Moral, der Pastor hetzt noch in absolut demagogischer Weise.
Und Myschkin gelingt es dagegen eine Art Kinderaufstand zu organisieren.
So wie in New York manche Samenbomben in Brachgründstücke werfen, damit
dort Parks entstehen, verbreitet er die Botschaft, dass Liebe, Zuneigung und
Verständnis die richtigen Gegenmittel sind gegen diese Gewinner/Verlierer-Welt.
Es ist eine sanfte Revolution, die er anzettelt. Es ist eine Revolution der Liebe,
und das, wo er sich doch andererseits vor der Liebe fürchtet.
„ Daß ich Marie geküßt hatte, war zwei Wochen vor dem Tod ihrer Mutter
gewesen, und als der Pastor jene Leichenrede hielt, waren schon alle Kinder auf
meiner Seite. Ich erzählte ihnen sofort wieder, wie sich der Pastor benommen
hatte, und sagte ihnen, wie ich darüber urteilte; alle waren sie über ihn empört,
einige so sehr, daß sie ihm die Fenster einwarfen. Dies verbot ich ihnen, weil das
nicht mehr recht war; aber im Dorf hatten alle sofort alles erfahren und
beschuldigten mich nun, ich verdürbe die Kinder. Dann erfuhren alle auch, daß
die Kinder Marie lieb hatten, und bekamen darüber einen gewaltigen Schreck;
Marie jedoch fühlte sich schon ganz glücklich. Man verbot den Kindern, mit ihr
zusammenzukommen; aber sie liefen heimlich zu ihr, nach dem ziemlich weit
(fast eine halbe Werst) vom Dorf entfernten Weideplatz der Herde; sie brachten
ihr dies und das zum Essen mit, manche aber liefen auch einfach hin, um sie zu
umarmen, zu küssen und ihr zu sagen: ›Je vous aime, Marie!‹, und dann Hals
über Kopf wieder zurückzurennen. Marie verlor infolge dieses unerwarteten
Glücks fast ihren Verstand; so etwas hätte sie sich nie träumen lassen; sie
schämte sich und freute sich zugleich. Besondere Freude machte es den zu ihr
hinlaufenden Kindern und namentlich den kleinen Mädchen, ihr mitzuteilen, daß
ich sie, Marie, liebte und sehr viel mit ihnen von ihr spräche. Sie berichteten ihr,
daß ich ihnen alles erzählt hätte und daß sie sie jetzt sehr lieb hätten und
bemitleideten und ihr immer treu bleiben würden. Dann kamen sie zu mir
gelaufen und erzählten mir mit Gesichtchen, die von freudigem Eifer strahlten,
sie hätten soeben mit Marie gesprochen, und sie lasse mich grüßen. Abends ging
ich oft nach dem Wasserfall; dort befand sich ein nach dem Dorf zu ganz
verdeckter Platz, um den herum Pappeln standen; da versammelten sich die
Kinder abends um mich; manche liefen sogar heimlich aus dem Dorf weg. Ich
glaube, ihr ganz besonderes Entzücken war meine Liebe zu Marie, und dies war
während meines ganzen dortigen Aufenthalts der einzige Punkt, in dem ich sie
täuschte. Ich ließ ihnen ihren Glauben, daß ich Marie liebte, das heißt, in sie
verliebt sei, und sagte ihnen nicht, daß ich sie in Wirklichkeit nur sehr
bemitleidete; ich sah an allem, daß es ihnen besser so gefiel, wie sie sich das
selbst ausgedacht und unter sich zurechtgelegt hatten, und darum schwieg ich
und tat, als hätten sie es erraten. Und wie feinfühlig und zärtlich waren diese
kleinen Herzen: unter anderm meinten sie, das dürfe doch nicht sein, daß ihr
guter Léon Marie so liebe und diese Marie so schlecht gekleidet sei und keine
Schuhe habe. Denken Sie sich, sie beschafften ihr Schuhe und Strümpfe und
Wäsche und sogar einige Kleidungsstücke; auf welche kluge Weise sie das
zustande brachten, ist mir unbegreiflich; der ganze Schwarm wirkte dabei
zusammen. Wenn ich sie darüber befragte, lachten sie nur lustig, und die kleinen
Mädchen klatschten in die Hände und küßten mich. Manchmal ging auch ich
heimlich zu Marie hin. Sie war schon sehr krank und konnte kaum noch gehen;
schließlich war es ihr gar nicht mehr möglich, dem Hirten irgendwelche Dienste
zu leisten; aber sie zog doch jeden Morgen mit der Herde aus. Sie setzte sich
abseits hin; es war da an einem abschüssigen, beinah senkrechten Felsen ein
Vorsprung; dort setzte sie sich im innersten Winkel, wo niemand sie sehen
konnte, auf einen Stein und saß da fast regungslos den ganzen Tag, vom frühen
Morgen bis zu der Stunde, wo die Herde heimging. Sie war infolge der
Schwindsucht schon so schwach, daß sie meist mit geschlossenen Augen, den
Kopf gegen den Felsen gelehnt, dasaß und, mühsam atmend, halb schlummerte;
ihr Gesicht war so mager geworden wie bei einem Skelett, und an Stirn und
Schläfen trat ihr der Schweiß heraus. In diesem Zustand fand ich sie immer vor.
Ich kam stets nur auf einen Augenblick und wünschte auch nicht, von den
Leuten gesehen zu werden. Sobald ich mich zeigte, fuhr Marie sofort zusammen,
öffnete die Augen und stürzte auf mich zu, um mir die Hände zu küssen. Ich
entzog sie ihr nicht mehr, weil ihr dies eine Wonne war; die ganze Zeit über,
während ich bei ihr saß, zitterte und weinte sie; einige Male versuchte sie
allerdings auch zu reden; aber es war schwer, sie zu verstehen. Vor Aufregung
und Entzücken war sie wie von Sinnen. Mitunter kamen auch die Kinder mit mir;
sie stellten sich dann gewöhnlich in der Nähe auf und bewachten uns vor irgend
etwas und vor irgend jemand; das war für sie ein ganz besonderes Vergnügen.
Wenn wir fortgingen, blieb Marie wieder allein, regungslos wie vorher, mit
geschlossenen Augen, den Kopf an den Felsen gelehnt; vielleicht träumte sie von
irgend etwas. Eines Tages war sie am Morgen nicht mehr imstande, zu der
Herde hinauszugehen, und blieb in ihrem öden Haus. Die Kinder erfuhren es
sogleich und kamen an diesem Tag fast alle zu ihr gelaufen, um sie zu
besuchen; sie lag mutterseelenallein auf ihrem Bett. Zwei Tage lang waren es
nur die Kinder, die sie pflegten, indem sie abwechselnd hinkamen; aber als dann
im Dorf bekannt wurde, daß Marie wirklich schon im Sterben liege, stellten sich
auch die alten Frauen aus dem Dorf bei ihr ein, saßen an ihrem Lager und
versorgten sie. Es schien, daß man im Dorf mit Marie Mitleid zu fühlen begann;
wenigstens hielt man die Kinder nicht mehr zurück und schalt sie nicht mehr wie
früher. Marie lag die ganze Zeit im Halbschlummer, der aber infolge des
furchtbaren Hustens sehr unruhig war. Die Kinder wurden von den alten Frauen
fortgejagt, kamen aber doch ans Fenster gelaufen, manchmal nur auf einen
Augenblick, nur um zu sagen: ›Bonjour, notre bonne Marie!‹ Sowie diese sie
aber sah oder hörte, kehrte ihr die Lebenskraft zurück, und sie versuchte mit
Anstrengung, ohne auf die alten Frauen zu hören, sich aufzurichten und auf den
Ellbogen zu stützen, nickte den Kindern zu und dankte ihnen. Sie brachten ihr
wie früher mitunter ein paar gute Bissen mit; aber sie aß fast gar nichts mehr.
Ich versichere Ihnen, dank den Kindern ist sie beinah glücklich gestorben. Die
Kinder machten, daß sie ihr schweres Leid vergaß; sie hatte das Gefühl, daß sie
von ihnen Vergebung empfangen habe; denn sie hielt sich bis zu ihrem
Lebensende für eine große Sünderin. Die Kinder schlugen gleichsam wie kleine
Vögel mit den Flügelchen an das Fenster der Kranken und riefen ihr jeden
Morgen zu: ›Nous t’aimons, Marie.‹ Sie starb sehr bald. Ich hatte geglaubt, sie
würde weit länger leben. Am Tag vor ihrem Tod kam ich vor Sonnenuntergang
zu ihr; sie schien mich zu erkennen, und ich drückte ihr zum letzten Mal die
Hand; ach, wie ausgetrocknet war diese Hand! Und am folgenden Morgen kam
unerwartet jemand zu mir und sagte mir, daß Marie gestorben sei.
Nun ließen sich die Kinder nicht zurückhalten: sie schmückten ihren Sarg reich
mit Blumen und setzten ihr einen Kranz auf den Kopf. Der Pastor schmähte in
der Kirche die Tote nicht mehr; die wenigen Menschen, die sich zur Beerdigung
eingefunden hatten, waren nur aus Neugier gekommen; aber als der Sarg
weggetragen werden sollte, da stürzten die Kinder alle mit einemmal herbei, um
ihn selbst zu tragen. Da dazu ihre Kraft nicht ausreichte, so halfen einige von
ihnen wenigstens nach Möglichkeit, und die übrigen liefen hinter dem Sarg her,
und alle weinten. Maries Grab ist seitdem von den Kindern beständig schön in
Ordnung gehalten worden: sie schmücken es jedes Jahr mit Blumen und haben
ringsherum Rosensträucher gepflanzt.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19661 – 19665
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 112 – 115)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Nach dem Tod Marias endet die vorübergehende Schonzeit für Myschkin und die
Kinder. Die Dorfobrigkeit fühlt sich herausgefordert:
„Aber von dieser Beerdigung an begann mich das ganze Dorf um der Kinder
willen zu befehden. Die Hauptanstifter waren der Pastor und der Schullehrer.
Den Kindern wurde jeder Verkehr mit mir streng verboten, und Schneider
verpflichtete sich sogar, darüber zu wachen. Wir kamen aber doch zusammen
und verständigten uns von weitem durch Zeichen; auch schickten sie mir kleine
Briefchen. In der folgenden Zeit schob sich das alles wieder zurecht; aber
damals fühlten wir uns ganz wohl dabei, und ich war den Kindern durch diese
Verfolgung sogar noch nähergerückt.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19666
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 115-116)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
„Schneider aber disputierte mit mir viel über meine verderbliche ›Methode‹, mit
den Kindern umzugehen. Aber von einer wirklichen ›Methode‹ war bei mir ja gar
nicht die Rede! Zuletzt (es war schon kurz vor meiner Abreise) sprach Schneider
mir gegenüber einen recht seltsamen Gedanken aus: er sagte zu mir, er habe
jetzt die sichere Überzeugung gewonnen, daß ich selbst ein vollständiges Kind
sei; ich hätte nur an Wuchs und Gesicht Ähnlichkeit mit einem Erwachsenen;
aber was die Entwicklung der Seele, des Charakters und vielleicht auch des
Verstandes anlange, sei ich kein Erwachsener, und ich würde so bleiben, auch
wenn ich sechzig Jahre alt würde. Ich lachte darüber herzlich; er hat natürlich
unrecht; denn ich bin ja doch kein kleines Kind! Eines ist allerdings daran wahr,
nur eines: ich bin wirklich nicht gern mit Erwachsenen, mit Großen zusammen
(ich habe das schon längst an mir beobachtet); ich bin nicht gern mit ihnen
zusammen, weil ich sie nicht verstehe. Was sie auch mit mir sprechen und wie
gut sie auch gegen mich sein mögen, ich fühle mich doch stets in ihrer
Gesellschaft bedrückt und bin heilfroh, wenn ich so bald wie möglich zu meinen
Kameraden gehen kann, und meine Kameraden waren immer die Kinder, aber
nicht, weil ich selbst ein Kind war, sondern weil es mich einfach zu den Kindern
hinzog. „
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19667
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 116-117)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Den „seltsamen“ Gedanken von Schneider hat sich später Tellenbach zu eigen
gemacht.
In der Tat fehlt auch Kindern oft der Respekt vor Hierarchien und Hierarchen und
vieles was uns unter dem Motto „Kindermund tut Wahrheit kund“ amüsiert, ist
oft ein aus Unwissenheit geschehener Regelverstoss, der allerdings meist eher
die Regeln als die Kinder der Lächerlichkeit preisgibt.
Myschkin dagegen hat ein prinzipielles Problem mit der erwachsenen Ordnung.
Nicht weil er ein Kind geblieben ist, sondern weil sie gegen seine Natur ist.
Die „epileptische Kanaille“ lässt grüssen !
Natürlich ist Schneiders Theorie auch ein Versuch seinen Patienten zu schützen.
Gerade weil Myschkin das Bewußtsein für die Bedeutung einer hierarchischen
Ordnung fehlt, fehlt ihm auch jedes Bewußtsein für die Gefahr, in die er sich
begibt, wenn er diese Ordnung in Frage stellt. Hier ähnelt er tatsächlich einem
Kind.
Es ist auch nicht so, dass er jede Art von Hierarchie ablehnt. Wenn
Feuerwehrleute Brände löschen, dann benötigen sie eine klare Kommandostruktur,
bei der in jedem Moment klar ist, wer die Verantwortung trägt und wer
die Entscheidung trifft. Das schliesst selbstverständlich auch die Eigenverantwortlichkeit
jedes Feuerwehrmanns mit ein. Denn, wenn ein Balken vom
Dach zu stürzen droht, muss man rennen und kommt mit Sprüchen, wie „auf
jedem Schiff das dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt und der
bin ich.“ (Westerwelle) nicht weiter.
Vor allem da auf dem Grund des Meeres viele Schiffe liegen, die von solchen
Kapitänen gesteuert wurden.
Andererseits kann man gegen ein Feuer nicht erfolgreich koordiniert vorgehen,
wenn niemand da ist, der koordiniert und wenn der nicht das letzte Wort hat.
Unser Myschkin wird sich am besten von jedem Feuer und jeder Feuerwehr fern
halten und zwar einfach deswegen, weil er im Falle eines Falles zu lange
braucht, bis er begreift, dass er rennen muss. Er wäre deswegen eine Gefahr für
sich und andere.
Wenn wir uns nun vorstellen, dass der Brand gelöscht ist, dann kommt vielleicht
der Bürgermeister mit seinen Beigeordneten vorbei, um sich ein „Bild von der
Lage“ zu machen. Die bringen auch eine Hierarchie mit, die in der Regel auch
mehrere städtische Beamte und einen grossen oder kleinen Tross
Pressevertreter einschliessen.
Diese Hierarchie ist aber im Gegensatz zu der Hierarchie der Feuerwehrleute
während des Einsatzes in diesem Moment und in dieser Situation vollkommen
überflüssig. Im Gegenteil: Es spart Zeit und Informationsverluste, wenn die
Feuerwehrleitung diese Leute gleichzeitig und gleichberechtigt informiert.
Allerdings wird in der Mehrzahl der Fälle ein Bürgermeister beleidigt sein, wenn
er nicht die ersten Fragen stellt und beantwortet bekommt und ein städtischer
Beamter wird klug genug sein, mit seinen Fragen zu warten, bis der
Bürgermeister fertig ist. Pressevertreter werden sich vordrängen.
Bei Myschkins und aller Idioten Problem mit Hierarchien muss demnach
unterschieden werden, zwischen der aus der Sache heraus notwendigen
Hierarchie, z.B. um schnell und koordiniert zu reagieren. Hier braucht er zu
lange, bis sein Verstand begriffen hat, was ihm eigentlich sein Instinkt sagen
müsste. Aber sein Verstand wird die Notwendigkeit einer hierarchischen Ordnung
in diesem Zusammenhang nie in Frage stellen. Nur kann er sich trotzdem nicht
richtig einfügen, weil er gar nicht so schnell mitkommt.
Im „Bürgermeister-Fall“ fehlt ihm jeglicher Instinkt für die tatsächlich
vorhandene hierarchische Ordnung und sein Verstand sagt ihm, dass eine
Hierarchie überflüssig ist.
Dadurch wird er zum „geborenen Feind“ solcher Ordnungen.
Das aber kann gefährlich sein.

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