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Taxi nach Ringsted
Als wir am Kopenhagener Hauptbahnhof ankamen, hatten wir noch Zeit. Direkt neben dem Bahnhof gibt es eine originelle Kneipe. „Jenerbanen“ ist eine Eisenbahner-Bierschwemme mit eigener Biermarke.
Es wird viel geraucht im „Jenerbanen“ , soviel, dass man manchmal die Hand vor den Augen nicht sieht, die Leute stehen um die Theke, die Wände sind mit Bildern bepflastert und wer ein Bier bestellt bekommt eine Rabatkarte in die Löcher gezwickt werden, Mengenrabatt für die Schluckspechte. Wenn Sie mal nach Kopenhagen kommen, schauen Sie unbedingt rein, es ist ein Erlebnis.
Wir tranken ein Bier und dann noch ein 2.tes. Zwar war mein Kollege der Meinung, dass der Nachtzug um 18:40 losfahren sollte, aber ich war der felsenfesten Überzeugung, dass die Abfahrt um 19 Uhr ist und habe das so überzeugend vertreten, dass keiner von uns beiden auf die Idee kam, einfach unsere Fahrkarten zu checken.
Nach dem zweiten Bier zahlten wir und gingen etwas „früher“ um dann am Bahnsteig dem abfahrenden Zug hinterher zu schauen.
Es war der Nachtzug nach Deutschland und damit unsere einzige Möglichkeit die Nacht nicht auf harten Bänken im Bahnhof zu zu bringen.
Ich fasste mich am schnellsten: „Wir gehen zum Taxistand und fahren zum nächsten Bahnhof“.
Im Eiltempo ging es zum Taxistand vor dem Bahnhof gegenüber vom Tivoli.
Der Taxifahrer war ein Palästinenser oder Jordanier.
Wir einigten uns schnell mit ihm, dass der nächste Bahnhof, Hoje Taastrup, zu nah ist, um vor dem Zug dort zu sein.
Also war das nächste Ziel Ringstedt
Nun protestierte aber unser Fahrer. Er wisse nicht, wie er fahren müsse um nach Ringsted zu kommen.
Nach einigem Hin und Her fuhr er schließlich an den Straßenrand.
In selben Moment als er an die Seite fuhr, hatte ich das Gefühl, als hätte jemand einen Staubsauger angemacht und würde damit mein Gehirn und jeden vernünftigen Gedanken darin weg saugen.
Für mich war in diesem Moment alles verloren.
Der Taxifahrer drückte mir einen Stapel Karten in die Hand und meinte, ich solle ihm darauf den Weg nach Ringsted zeigen, ich saß auf dem Beifahrersitz und ich wusste noch nicht mal mehr wie rum ich die Karte halten muss, geschweige denn, das hätte wissen können wo Ringsted ist.
Zum Glück für mich, behielt mein Kollege die Nerven und die Übersicht. Er machte dem Taxifahrer unmissverständlich klar, dass er losfahren und sein Navigationssystem nutzen sollte. Mit immer wieder wiederholtem „keep going“ und der Antwort „you put me under pressure“ erreichten wir schließlich mehr oder weniger in letzte Minute Ringsted. Während dessen kehrte mir auch mein Verstand wieder langsam zurück.
Der Halt am Straßenrand stak mir allerdings noch länger in den Knochen.
Wenn man dieses absolute Gefühl der Leere, der totalen Unfähigkeit zu handeln, einmal erlebt hat, vergisst man es nie mehr.
Und ich erlebte es in dieser Woche zum zweiten Mal: Montags und Freitags.
Beim ersten Mal hatte ich hilflos in einem Aufzug gestanden.
Es ist als verabschiede sich mein Ich von mir und zurück bleibt eine leere Hülle.
Was passiert da?
Eigentlich arbeitet unser Gehirn immer, selbst im Schlaf. Aber es arbeitet in verschiedenen Modi. Im Schlaf z.B. wird die Verbindung zur Außenwelt mehr oder weniger vollständig unterbrochen.
Im Wachen gibt es Modi unterschiedlicher Wachheit, vom Tagträumen bis zu einem Zustand den ich als „Hellwach“ bezeichnen möchte.
Diese Zustände unterscheiden sich durch die Intensität mit der wir unsere Umwelt wahrnehmen.
Beim Tagträumen nehmen wir nur das Nötigste wahr, im Hellwach-Zustand haben wir gewissermaßen alle Antennen auf Empfang.
Hellwach sind wir, wenn es um etwas geht, im Beruf, in der Politik oder in der Liebe.
Wobei es eigentlich falsch ist, wenn ich „wir“ sage, denn den Zustand „hellwach“ erreichen ich nicht, weil nicht alle meine Antennen empfangen können oder weil nicht alle Signale, die meine Antennen erreichen, weiter verarbeitet werden.
Das Resultat ist dasselbe, nur die Ursache ist anders. Wobei ich persönlich eher Probleme bei der Signalverarbeitung als ursächlich ansehe d.h. die Antennen funktionieren vermutlich, aber die Fähigkeit „abzuschalten“ und damit die Fähigkeit Signale weg zu blenden, damit sie das Hirn nicht beim Denken stören, ist überentwickelt und kann nicht weit genug zurück gefahren werden.
Mein Gehirn will vom Träumen niemals lassen.
So gut es geht gleicht mein Verstand diesen Umstand aus und so gelingt es mir, wenn ich Glück habe, solche eine „ich muss jetzt hellwach sein“-Situation heil zu überstehen.
Ich kann auch in so fern Glück haben, dass mir jemand aus der Patsche hilft.
Selbst wenn mir niemand aus der Patsche hilft, kann ich mich einfach nach den anderen richten und dann habe ich auch Glück.
Aber ich habe nicht immer Glück.
Und manchmal kann mir niemand helfen.
Nach dem „Hellwach“-Zustand gibt es dann noch „höchster Alarm“. Das ist kein Normal- sondern ein Ausnahmezustand. Wenn dieser Level erreicht wird, schaltet mein Gehirn ab und auf meiner Stirn erscheint ein Schriftband „Wegen Überforderung vorübergehend geschlossen“.
So war es an diesem Freitag im Taxi.
Zu meinem Glück und im Unterschied zu anderen Situationen konnte ich mich einfach im Sitz zurücklehnen und auf den wachen Verstand meines Kollegen hoffen.
Vor einigen Wochen wurde Günther Amendt überfahren.
Das Auto raste in Hamburg ungebremst über den Gehsteig und riss mehrere Passanten in den Tod.
Inzwischen weiß man, dass der Autofahrer ein Epileptiker war, der sich sein „Recht auf einen Führerschein“ vor Gericht erkämpft hatte.
Nun wird darüber spekuliert, ob er möglicherweise einen Anfall gehabt hatte, als er mehrere Menschen überfuhr.
Er muss keinen Anfall gehabt haben, es reicht, wenn auch sein Verstand, wie meiner manchmal, vorübergehend außer Betrieb war.
Übrigens können auch vollkommen Gesunde in so einen Zustand der Starre geraten. Es muss ihnen aber mehr passieren, damit das passiert.
Die Konsequenz daraus kann nur sein, dass wir uns gegenseitig weniger überfordern. Idioten wie ich müssen zwangsläufig zu Versagern werden, manchmal sogar zu gefährlichen Versagern, wenn unser Leben so eingerichtet wird, dass man nicht nebenher vor sich hinträumen darf, weil immer die volle Aufmerksamkeit gefordert ist.
Auf der anderen Seite müssen wir Idioten uns auch der Zumutung des immer bereit und aufmerksam sein Müssens energischer widersetzen.
Es ist doch eine bittere Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Günter Amendt, der vielen von uns ein entspannteres, stressfreieres Verhältnis zu unserer Sexualität vermittelt hat, dass ausgerechnet er von einem epileptischen Idioten überfahren wird, der mit großem Einsatz und zweifelhaftem Erfolg darum gekämpft hat als Mann nicht ohne Auto und Führerschein da zu stehen.
Für manche Männer ist ja der Verlust ihres fahrbaren Untersatzes fast eine Kastration. Nicht ohne Grund findet man im Zeitschriftenladen die Zeitschriften mit den vielen PS direkt neben den Blättern mit den großen Busen.
Wir müssen lernen wieder mit unserer Unvollkommenheit zu leben und uns nicht dafür zu schämen, sagen zu müssen: Ich kann das nicht!
Übrigens gelingt das Frauen heute schon viel besser als den Männern.