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„Proletarier und Edelinge“
Herrmann Hesse empfand jene Szene im Haus Lebedew als besonders peinlich.
Jene Szene, da einige „Revolutionäre“ zum inzwischen reichen Myschkin kommen um zu schnorren. Damit ihre Schnorrerei den rechten Drive bekommt, verfassen sie einen „kritischen“ Artikel in einer „kritischen“ Zeitung.
„Revolutionäre“ und „Etablishment“ geraten aneinander und Myschkin sitzt am Schluss mit seinem Bedürfnis alle zu versöhnen zwischen allen Stühlen.
Wie schon Hesse bemerkte, sind sich „Etablishment“ und „Revolutionäre“ erstaunlich ähnlich, bis auf einen Unterschied: Die einen haben schon die Pöstschen auf die die anderen schielen. Beide sind aus dem selben Holz.
Das Bild vom „Reaktionär“ Dostojewski speist sich nicht zuletzt aus seiner wenig schmeichelhaften Schilderung der „Revolutionäre“.
Die Reaktionäre, die ihn deswegen gerne fest in ihre Arme schließen, vergessen allerdings gerne, dass auch sie nicht gut aussehen:
„Da habt ihr!
Von hier aus ergießt sich schon bald in die Gassen
Mensch für Mensch euer schwabbelndes Fett,
doch ich, der Verschwender von Worten unfassbar,
hab aus Schatullen den Vers freigesetzt.
Bei ihnen, mein Herr, hängt im Bart noch ein Fuder
ungegessener Kohlreste, ölig und kraus;
und sie, meine Dame, sind dick eingepudert,
ihre Austern, sie quelln aus der Schale heraus.
Auf dreckigen Sohlen, mit und ohne Galoschen,
trampelt ihr Schmetterlings Farbenpracht aus.
Die Menge vertiert, schon kommt sie gekrochen,
die Beinchen gesträubt, hundertköpfig, als Laus.
Und wenn ich, ein Hunne, euch heute zur Last war,
grobschlächtig und bitter,
dann schert mich das nicht,
denn ich, der Verschwender von Worten unfassbar,
spucke euch lachend ins Fratzengesicht.
(Majakowski 1913 übersetzt von Eric Boerner)
Wir wollen nun das „revolutionäre Manifest“ in seiner ganzen Länge und Verworrenheit genießen und analysieren:
»Proletarier und Edelinge. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit!
Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor, im Zeitalter der Reformen und der unternehmungslustigen Aktiengesellschaften, in dem Zeitalter des Nationalgefühls und der jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, in dem Zeitalter der Beschützung des Handwerks und der Lähmung der arbeitenden Hände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen, meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine sonderbare Geschichte mit einem der edlen Sprößlinge unseres ehemaligen Gutsherrnstandes (de profundis!) zugetragen, mit einem jener Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, und deren Väter sich genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen, und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits bei den Staatsgeldern starben, und die dann selbst, wie der Held unserer Erzählung, entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in Kriminalprozesse hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich schon hinreichend schmählichen Zeitalter zur Schande gereichen. Unser junger Edeling kehrte vor einem halben Jahr, mit ausländischen Gamaschen angetan und in einem ungefütterten Mäntelchen vor Kälte zitternd, im Winter nach Rußland aus der Schweiz zurück, wo er eine Kur gegen seine Idiotie durchgemacht hatte (sic!). Man muß bekennen, daß er Glück hatte; denn (wir reden noch gar nicht von seiner interessanten Krankheit, von der er sich in der Schweiz kurieren ließ; aber ist denn Idiotie überhaupt heilbar? Stellen Sie sich das nur einmal vor?!!) er konnte an seiner Person die Wahrheit des russischen Sprichworts beweisen: ›Eine gewisse Sorte von Menschen hat immer Glück!‹ Urteilen Sie selbst: nach dem Tod seines Vaters, der, wie es heißt, als Leutnant in der Untersuchungshaft gestorben war, weil er im Kartenspiel die ganzen Kompaniegelder verloren oder vielleicht auch einem Untergebenen eine übermäßige Portion Rutenhiebe hatte verabreichen lassen (vergessen Sie nicht, meine Herren, das war in der alten Zeit), wurde unser Baron, der als Säugling zurückgeblieben war, aus Barmherzigkeit von einem sehr reichen russischen Gutsbesitzer aufgezogen. Dieser russische Gutsbesitzer (nennen wir ihn P.!) besaß in jener alten goldenen Zeit viertausend leibeigene Seelen (leibeigene Seelen! verstehen Sie diesen Ausdruck, meine Herren? Ich verstehe ihn nicht. Man muß erst das Konversationslexikon befragen; ›nicht lang ist’s her, und doch ist’s kaum zu glauben‹ und war offenbar einer jener russischen Nichtstuer und Tagediebe, die ihr müßiges Leben im Ausland verbrachten, im Sommer in den Badeorten und im Winter im Pariser Château des fleurs, wo sie seinerzeit enorme Summen zurückließen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß mindestens ein Drittel des gesamten in der früheren Zeit der Leibeigenschaft gezahlten Pachtzinses in die Tasche des Besitzers des Pariser Château des fleurs floß (war das ein glücklicher Mensch!). Wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls ließ der sorglose P. dem verwaisten jungen Herrn eine fürstliche Erziehung zuteil werden und hielt ihm Erzieher und Gouvernanten (ohne Zweifel hübsche), die er bei Gelegenheit selbst aus Paris mitbrachte. Aber der junge Edeling, der Letzte seines Geschlechtes, war ein Idiot. Die Gouvernanten aus dem Château des fleurs konnten ihm nicht helfen, und bis zum zwanzigsten Lebensjahr vermochte ihr Zögling keine einzige Sprache zu sprechen, nicht einmal die russische. Letzteres ist übrigens verzeihlich. Endlich bildete sich in P.s russischem Gutsherrnkopf die Vorstellung, man könne einem Idioten in der Schweiz Verstand beibringen lassen, übrigens eine von seinem Standpunkt aus logische Vorstellung: so ein Müßiggänger und Proprietär konnte sich sehr wohl denken, daß man für Geld sogar Verstand auf dem Markt kaufen könne, ganz besonders in der Schweiz. Fünf Jahre lang befand sich nun der edle Sprößling zur Kur bei einem bekannten Professor in der Schweiz; diese Kur kostete viele tausend Rubel: der Idiot wurde dadurch natürlich nicht klug, aber doch, wie man sagt, einem Menschen wenigstens so halbwegs ähnlich.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20102 – 201??
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 134-142)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Hier wird u.a. auf die sogenannte „Bauernbefreiung“ von 1861 angespielt, die auch gerne mit der preußischen Stein-Hardenbergschen Reform verglichen wird.
Allerdings verstellen solche Analogien mehr als sie erklären.
Wobei der Text sowieso eine eigenartige Ambivalenz ausstrahlt. Man weiss nicht so recht was er will und was er beklagt. Stören sich die Autoren daran, dass inzwischen das Geld regiert und sehnen sich nach den „guten alten Zeiten“ als an Stelle des Geldes die Knute regierte oder freuen sie sich im Gegenteil darüber, dass die Gutsbesitzerkaste ihre privilegierte Stellung verloren hat ?
Gleichzeitig beklagen sie, dass die Abhängigkeit vom Staat zugenommen hat und dass die Zahl derer, die an die Futterkrippe drängen soviel größer ist, als die Futterstellen. Und nun kommt auch noch dieser Idiot und erbt einfach.
Um diese Verworrenheit zu verstehen, müssen wir tiefer in die russische Geschichte eintauchen:
Rußland wird u.a. von Marx gerne als „halb-asiatische Despotie“ charakterisiert.
Was ist damit gemeint ?
Als sich nach der neolithischen Revolution der Ackerbau als vorherrschende Wirtschaftsform durchsetzte, geschah dies überwiegend in der Form dass Bauern und Bäuerinnen in ihren Dörfern miteinander kooperierten.
Dabei bildete sich sowohl Gemeindeeigentum als auch privates, persönliches Eigentum.
Vor allem die Schwierigkeiten bei der Bewirtschaftung von Bachtälern und schließlich sogar großer Flusstäler erforderten großräumigere Kooperationen.
Die Wirtschaftsforscherin und Nobelpreisträgerin Ostrom hat eine solche Kooperation zur Flussregulierung und Bewässerungssteuerung auf den Phillipinen untersucht.
Belegstelle
Natürlich wurden diese Kooperationen umso größer je größer die Flüsse wurden, weswegen am Beginn dieser Entwicklung auch erstmal kleinere und mittlere Flüsse urbar gemacht wurden.
Die außerordentlich hohe Produktivität dieser Bewässerungslandwirtschaft lohnte allerdings auch außergewöhnliche Mühe und erlaubte einen Teil der Bevölkerung für diese kooperative Tätigkeit, vor allem für die Organisation dieser Tätigkeit, von normaler Arbeit frei zu stellen.
Diese großen Kooperationen waren der Ursprung dessen, was man später „Staat“ nannte. Und so lange es um die Installation und Unterhaltung eines Bewässerungssystems ging, das allen zu höheren Erträgen verhalf, aber auch um gemeinsame Vorratswirtschaft, die über Ernteausfälle hinweghalf, war es überhaupt keine Frage, dass die Bauerngemeinden einen Teil ihres Mehrproduktes freiwillig an den „Palast“ weitergaben. Zumal durch die sehr hohe Produktivität frühe Überflussgesellschaften entstanden.
Im Zentrum dieses Überflusses stand aber der „Palast“. Und so wurde er zu einem Ziel von Begehrlichkeiten. Sowohl von innen als auch von außen drängten daher immer mehr Menschen zu diesem „Palast“, die sich gerne an gut gedeckte Tische setzen ohne etwas dafür zu leisten, dass die Scheuern voll sind.
Am Ende wurden diese Gesellschaften zum Opfer fremder Räuber. Da aber die Basis des großen Wohlstands der Unterhalt des Allmendegutes, des Common, z.B. das empfindliche und ständig reparaturbedürftige Bewässerungssystem war, verfiel der Wohlstand in dem Maße, in dem der „Palast“ vergaß, welchen Umständen er seinen Reichtum verdankte. Nun konnten neue Räuber zu „Befreiern“ werden, in dem sie nicht nur den Palast von zu vielen Essern befreiten, sondern auch die alte Ordnung und vor allem aber die Bewässerungssysteme wieder instand setzten. Damit beginnt dann immer eine neue Dynastie, die am Ende an ihrer eigenen Verkommenheit zu Grunde geht.
So wurde aus der ursprünglichen Kooperation ein Staat und aus der freiwilligen Abgabe im eigenen Interesse ein Zwang.
D.h. die erste Ausbeutergesellschaft überhaupt beruht auf der Unterwerfung und Ausbeutung einer ursprünglichen Allmende-Institution, eines „Common“. In einer solchen Gesellschaft gibt es kein Privateigentum. Allerdings hat sich eine Gruppe von Räubern die Kontrolle, das Monopol, über die Gemeindegüter gesichert.
Dadurch verwandelt sich aber das Verhältnis von Palast und Bauerngemeinden von einem Verhältnis der Gleichheit und Gleichberechtigung bei unterschiedlicher Funktion in der Gemeinschaft, in ein Verhältnis der Ausbeutung und Unterdrückung.
Eine solche Gesellschaft heißt bei Marx „asiatisch“. Sie könnte genauso gut „afrikanisch“ heißen, denn Ägypten ist eines der ersten Länder der Erde, in dem sich diese Entwicklung vollzieht.
Mit dem Begriff der „asiatischen Despotie“ ist demnach eine Gesellschaft gemeint, in der weitgehend autonome Bauerngemeinden eigenständig wirtschaften und über wesentliches Produktionseigentum, vor allem den Boden, zum Teil gemeinschaftlich zum Teil privat, aufgeteilt in kleine und kleinste Parzellen, verfügen.
Diese Bauerngemeinden sind einer Oberschicht tributpflichtig, die zum kleineren Teil auch eine produktive Rolle spielen kann, in dem sie z.B. Bewässerungssysteme, Strassen und andere gemeinsame Infrastruktur erhalten, zum größeren Teil schmarotzen sie aber und plündern die Länder aus, über die sie herrschen. Da ihre einzige wirkliche Legitimation die nackte Gewalt ist, ist auch die Despotie die ihnen gemäße Staatsform.
Es versteht sich von selbst, dass solche Staaten immer von dem Konflikt geprägt sind, wem denn nun gehört, was nach seiner Bestimmung allen gehören soll.
„Der Staat sind wir“ ist in so fern eine alte Losung.
Diese Staatsmaschine, sobald sie einmal oder auch mehrmals erfunden wurde, breitet sich auch weiter aus. Auch in Gebiete, in denen z.B. gar keine Bewässerungslandwirtschaft möglich ist.
Nomadenvölker unterwerfen die Flusstalbewohner und Ackerbauern. Ihre Führer usurpieren den bestehenden Staat und weiten seine Herrschaft auch auf andere Gebiete aus. Kennzeichen aller dieser Ordnungen ist fast immer, dass das Eigentum an den wesentlichen Produktionsmitteln staatlich ist.
In anderen Gebieten der Welt vollziehen sich andere Entwicklungen. So entstehen z.B. aus Stammesgefolgschaften, Stammeshierarchien schließlich feudale Ordnungen. Im Gegensatz zur orientalischen Despotie bleibt aber in solchen Gebilden die zentrale staatliche Instanz meist schwach.
Dafür verankert sich dort privates Eigentum viel stärker.
Auf dem Boden dieser Feudalordnung entstehen dann auch Kapitalismus und Bürgertum.
Am Ende einer langen Entwicklung stehen sich dann zwei gegensätzlich strukturierte Klassengesellschaften gegenüber:
In der einen herrscht jene Bürokratenkaste, die den Staat eigentlich nur verwalten soll, über die ganze Gesellschaft.
In der anderen führt wirtschaftliches Eigentum zur gesellschaftlichen und staatlichen Macht.
Beide Gesellschaften können nur dann ihren wirklichen Eigentümern, nämlich dem Volk, zurück gegeben werden, nachdem dieses in einem langen, opferreichen Kampf Demokratie in Wirtschaft und Staat erkämpft hat.
Die Völker der Welt sind heute auf diesem Weg und sie sind in verschiedenen Staaten unterschiedlich weit gekommen. Sie werden sicher noch eine Weile brauchen um endgültig ans Ziel zu kommen.
Die Entwicklung in Rußland war und ist nun deswegen ganz besonders kompliziert und auch entsprechend schwer zu verstehen, weil sich hier die gegensätzlichen Ordnungen mischen.
Die Kiewer Ruß war, nach allem was wir wissen, ein früh-feudaler Staat. Dieser Staat geriet nun im 13.Jahrhundert unter die Mongolenherrschaft. Der Tatarenstaat war aber eine orientalische Despotie. Und die neuen Herren taten ihr möglichstes ihren neuen Besitz nach ihrem Bild und Willen zu formen.
Dabei bedienten sie sich auch russischer Herren, z.B. der bis dato ziemlich unbedeutenden Fürsten von Moskau.
Als tatarische Steuereintreiber wurden sie bedeutend.
Schließlich befreiten sie sich sogar von der Herrschaft der Khane. Aber nur um deren Ordnung nun auf eigene Rechnung zu fortzusetzen.
Und so entsteht ein eigenartiger Zwitter. In diesem Zwitter nehmen wir Gutsherren und Leibeigene wahr, wie in anderen Teilen Europas.
Und wir vermuten eine Bauernbefreiung ähnlich der preußischen. Und analog zur preußischen vermuten wir auch hier, dass die Bauern mehr enteignet als befreit wurden.
Was wir aber übersehen: Letztlich gehört in diesem Land alles dem Zaren. Die zentrale Bürokratie kann jederzeit jegliches Eigentum mit wenigen Federstrichen konfiszieren.
So kommt es, dass weder die Bauern noch die Herren allzuviel Selbstbewußtsein entwickeln (können) gegenüber einer Bürokratie, die am Ende immer siegt.
Aber hören wir, was unsere „Revolutionäre“ noch zu sagen haben:
„Da stirbt P. unerwartet früh. Ein Testament war natürlich nicht vorhanden; die Vermögensverhältnisse befanden sich, wie das gewöhnlich der Fall ist, in arger Unordnung; es stellte sich ein Haufe gieriger Erben ein, die sich natürlich nicht im geringsten mehr um diesen letzten Sprößling seines Geschlechtes kümmerten, den der Verstorbene aus Barmherzigkeit in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen wollen. Der junge Edeling, Idiot wie er war, versuchte doch, seinen Professor zu betrügen, und ließ sich, wie man erzählt, von ihm zwei Jahre lang gratis behandeln, indem er ihm den Tod seines Wohltäters verheimlichte. Aber der Professor war selbst ein schlauer Patron; das Ausbleiben der Zahlungen und ganz besonders der starke Appetit seines fünfundzwanzigjährigen faulenzenden Patienten machten ihn doch schließlich stutzig; er gab ihm ein Paar alte Gamaschen von sich zum Anziehen, schenkte ihm einen abgetragenen Mantel von sich und spedierte ihn aus Barmherzigkeit dritter Klasse nach Rußland; so war die Schweiz ihn losgeworden. Es könnte nun scheinen, als habe Fortuna unserem Helden den Rücken gewendet. Das war jedoch nicht der Fall: Fortuna, die ganze Gouvernements Hungers sterben läßt, schüttete auf einmal alle ihre Gaben über diesen Aristokraten aus, wie in der Krylowschen Fabel die Wolke über das ausgetrocknete Feld hinwegzieht und ihr Wasser in den Ozean hinabschüttet. Fast in demselben Augenblick, als er aus der Schweiz in Petersburg eintraf, starb in Moskau ein Verwandter seiner Mutter (die natürlich aus dem Kaufmannsstand stammte), ein alter, kinderloser, allein dastehender, langbärtiger Kaufmann und Sektierer, und hinterließ eine Erbschaft von mehreren Millionen in barem Geld, die (ja, das wäre etwas für uns beide, mich und Sie, lieber Leser!) in ihrem ganzen Betrag unanfechtbar unserem jungen Edeling zufiel, der sich in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen! Na, nun klang die Musik natürlich anders. Um unseren Baron in Gamaschen, der schon angefangen hatte, einer bekannten Schönheit der Halbwelt den Hof zu machen, sammelte sich auf einmal ein ganzer Schwarm von Freunden; es fanden sich auch Verwandte ein und vor allem ganze Scharen vornehmer Mädchen, die danach schmachteten, mit ihm in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Und was konnte man sich auch Besseres denken: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot, also alle Vorzüge vereint; einen solchen Mann kann man nicht einmal mit der Laterne finden oder auf Bestellung geliefert bekommen …!«
»Das … das übersteigt ja alles!« rief Iwan Fjodorowitsch in höchster Entrüstung.
»Hören Sie auf, Kolja!« rief der Fürst in flehendem Ton. Von allen Seiten erschollen verschiedenartige Ausrufe.
»Weiterlesen! Unter allen Umständen weiterlesen!« verlangte Lisaweta Prokofjewna auf das allerbestimmteste; sie beherrschte sich augenscheinlich nur mit größter Anstrengung. »Fürst, wenn du ihm das Weiterlesen verbietest, bekommst du es mit mir zu tun!«
Es war nichts zu machen: mit heißem Gesicht, geröteten Wangen und mit einer Stimme, die vor Aufregung zitterte, las Kolja weiter vor: »Aber während unser neugebackener Millionär sozusagen im Schoß des Glückes saß, geschah etwas von einer Seite her, von der es niemand erwartet hatte. Eines schönen Morgens erscheint bei ihm ein Besucher, mit ruhigem, ernstem Gesicht, mit höflicher, aber würdiger und rechtlicher Redeweise, bescheiden und anständig gekleidet, in seiner Denkart offenbar der fortschrittlichen Richtung angehörig, und erklärt ihm in wenigen Worten den Grund seines Kommens: er ist ein bekannter Advokat; er ist von einem jungen Mann mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt worden und kommt in dessen Namen. Dieser junge Mann ist nicht mehr und nicht weniger als ein Sohn des verstorbenen P., obgleich er einen andern Namen trägt. Der Lüstling P. hatte in seiner Jugend ein anständiges, armes Mädchen verführt, das zu seinem Hofgesinde gehörte, aber eine westeuropäische Erziehung genossen hatte (wobei selbstverständlich die Herrenrechte der damaligen Zeit der Leibeigenschaft mit ins Spiel kamen), und als die unausbleiblichen, nahe bevorstehenden Folgen dieses Verhältnisses sichtbar wurden, sie möglichst schnell an einen erwerbstätigen, sogar in dienstlicher Stellung befindlichen Mann von edlem Charakter verheiratet, der dieses Mädchen schon lange geliebt hatte. Anfangs unterstützte er das junge Ehepaar; aber die edle Gesinnung des Ehemannes veranlaßte diesen bald, die weitere Annahme solcher Unterstützung abzulehnen. Es verging nun einige Zeit, und P. vergaß allmählich das Mädchen und seinen mit ihr erzeugten Sohn und starb dann bekanntlich, ohne testamentarische Anordnungen zu hinterlassen. Sein Sohn, der zu einer Zeit geboren wurde, als seine Mutter bereits in legitimer Ehe lebte, wuchs unterdessen unter einem andern Familiennamen heran und wurde von dem edeldenkenden Gatten seiner Mutter völlig als Sohn behandelt; aber als er bei dessen Tod mit der kränklichen, leidenden, an den Füßen gelähmten Mutter in einem abgelegenen Gouvernement zurückblieb, sah er sich vollständig auf seine eigenen Mittel angewiesen. Er selbst ging nach der Hauptstadt und verdiente sich Geld durch tägliche anständige Arbeit, indem er in Kaufmannsfamilien Privatstunden gab und sich dadurch zuerst als Gymnasiast, dann als Hörer der für ihn zweckmäßigen Universitätsvorlesungen erhielt, wobei er ein höheres Ziel im Auge hatte. Aber kann man etwa viel erwerben, wenn einem der russische Kaufmann für die Stunde zehn Kopeken gibt und man obendrein eine kranke, gelähmte Mutter hat? Auch als diese schließlich in dem abgelegenen Gouvernement starb, wurde der Sohn dadurch nicht sonderlich entlastet. Nun werfen wir die Frage auf: wie mußte unser junger Edeling gerechterweise denken? Gewiß meinen Sie, verehrter Leser, daß er zu sich folgendermaßen gesprochen hat: ›Ich habe mein ganzes Leben lang von P. alle erdenklichen Wohltaten genossen; für meinen Unterhalt und meine Erziehung, für Gouvernanten und dann in der Schweiz für die Heilung von der Idiotie sind viele, viele Tausende draufgegangen; und da besitze ich nun jetzt Millionen, während P.s edeldenkender Sohn, der an den Fehltritten seines leichtsinnigen, vergeßlichen Vaters keinerlei Schuld trägt, sich mit Privatstunden zu Tode quält. Alles, was für mich aufgewandt wurde, hätte gerechterweise für ihn aufgewandt werden sollen. Die für mich ausgegebenen gewaltigen Summen kamen mir in Wirklichkeit nicht zu. Es war dies nur ein Irrtum der blinden Fortuna; sie gehörten eigentlich dem Sohn P.s. Für ihn hätten sie verbraucht werden sollen, nicht für mich; letzteres war nur die Ausgeburt einer phantastischen Laune des leichtsinnigen, vergeßlichen P. Wenn ich im vollen Sinn ein edler, feinfühliger, gerechter Mensch wäre, so müßte ich seinem Sohn die Hälfte meiner ganzen Erbschaft abgeben; aber da ich vor allen Dingen ein kluger Mensch bin und recht gut weiß, daß die Sache nicht einklagbar ist, so werde ich ihm nicht die Hälfte meiner Millionen geben. Aber allerdings würde es von meiner Seite gar zu gemein und schamlos sein‹ (der Edeling vergaß, daß es auch nicht klug sein würde), ›wenn ich dem Sohn P.s jetzt nicht wenigstens die Tausende zurückerstattete, die P. für die Heilung meiner Idiotie ausgegeben hat. Das ist lediglich eine Forderung des Gewissens und der Gerechtigkeit! Denn was wäre aus mir geworden, wenn P. mich nicht aufgezogen, sondern statt dessen sich um seinen Sohn bekümmert hätte?‹
Aber nein, meine Herren! Unsere jungen Edelinge denken nicht so. Was für Vorstellungen ihm auch der Advokat machte, der die mühevolle Vertretung der Sache des jungen Mannes einzig und allein aus Freundschaft zu diesem und fast wider dessen Willen, beinah gewaltsam übernommen hatte, wie sehr er ihn auch auf die Pflichten der Ehre, des Anstandes und der Gerechtigkeit, ja sogar auf die Gebote der gewöhnlichen Klugheit hinwies, der Schweizer Zögling blieb unerbittlich, und was tat er? Alles Bisherige wäre noch nichts; aber nun kommt etwas, was wirklich unverzeihlich und durch keine interessante Krankheit zu entschuldigen ist: dieser Millionär, der kaum die Gamaschen seines Professors ausgezogen hatte, konnte nicht einmal so viel kapieren, daß der edeldenkende junge Mann, der sich mit Privatstunden quälte, ihn nicht um ein Almosen und eine Unterstützung bat, sondern sein Recht forderte, dasjenige verlangte, was ihm zustand, wenn auch nicht im gerichtlichen Sinne; und ebensowenig wußte der Millionär es zu würdigen, daß der junge Mann seine Ansprüche nicht persönlich erhob, sondern nur seine Freunde für ihn eintraten. Mit majestätischer Miene, berauscht von der durch seine Millionen ihm zugefallenen Macht, andere Menschen ungestraft niederzutreten, zieht unser Edeling einen Fünfzigrubelschein heraus und ist frech genug, ihn dem edeldenkenden jungen Mann als Almosen zu schicken. Sie glauben es nicht, meine Herren? Sie sind empört, beleidigt und stoßen einen Schrei der Entrüstung aus: aber trotz alledem hat er es getan! Selbstverständlich wurde ihm das Geld sogleich zurückgeschickt, sozusagen ihm ins Gesicht zurückgeschleudert. Wie soll nun die Sache erledigt werden? Gerichtlich verfolgen läßt sie sich nicht; es bleibt nur der Weg der Öffentlichkeit übrig! Wir übergeben daher dieses Geschichtchen dem Publikum, indem wir uns für seine Richtigkeit verbürgen. Man sagt, einer unserer bekanntesten Humoristen habe darüber ein reizendes Epigramm verfaßt, das nicht nur in den provinziellen, sondern auch in den hauptstädtischen Sittenschilderungen eine Stelle zu finden verdient:
In ’nem Mäntelchen von Schneider
Spielte Ljow fünf Jahr herum;
Unterdessen wurde leider
Nichts aus seinem Studium.
Heimgekehrt drauf in Gamaschen,
Erbt‘ er glücklich ’ne Million
Und bestahl trotz voller Taschen
Einen armen Musensohn.«
Als Kolja geendet hatte, reichte er die Zeitschrift so schnell wie möglich dem Fürsten hin, stürzte, ohne ein Wort zu sagen, in eine Ecke, drückte sich dicht hinein und verbarg das Gesicht in den Händen. Er schämte sich in einem unerträglichen Grade, und sein kindliches, an Schmutz noch nicht gewöhntes Empfinden war maßlos verletzt.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20102 – 20112
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 134-142)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Der „revolutionäre Gestus“ reduziert sich somit auf nichts weiter als blanken Neid und Schnorrertum.
Man kann zwar mit Lafarge darüber streiten, ob es nicht auch ein Menschenrecht auf Faulheit gibt, zumal Faulheit vornehm auch „Muse“ heißt und zurecht als Grundbedingung jedweden kreativen Schaffens angesehen wird. Der Gehirnforscher Spitzer kann überzeugend nach weisen, das Belohnungen („Incentives“ in neudeutsch) eher zu geistiger Minderleistung führen, d.h. wer geistig viel leisten will, muss vor allem Druck und Stress vermeiden.
Aber eine solche entspannte Atmosphäre hat nichts, aber auch gar nichts mit jener neiderfüllten „Kultur“ des Nichtstuns und der Nichtsnutzigkeit zu tun, für die diese „Helden“ stehen.
Das Privileg zu genießen, jeden Tag spazieren zu gehen und die Gedanken wandern zu lassen, darf nicht mit jener Bequemlichkeit verwechselt werden, bei der man keinen Fuß vor den anderen setzt.
Gesunde Kinder spielen gerne, Kinder, die nur noch antriebslos herum hängen, sind krank, entweder seelisch oder körperlich.
Und die russische Gesellschaft jener Zeit wird durch nichts besser charakterisiert als durch Gontscharows „Oblomov“.
Das „halbasiatische“ der russischen Gesellschaft besteht nicht darin, dass sie zur anderen Hälfte europäisch ist, sondern darin, dass in Agypten, Indien oder China die Despotie eine reale Funktion hatte (die Urbarmachung der Flüsse), während die russische Herrenkaste im Grunde durch und durch nutzlos ist.
Nachdem die Sowjetunion spätestens ab 1921 die Räte, die Sowjets, als basisdemokratische Einrichtungen beseitigt hatte, sammelte sich die alte Bürokratie unter neuen Fahnen. Die „Revolutionäre“ die uns Dostojewskij hier schildert, tragen diese konterrevolutionäre Tendenz bereits in sich.
Wenn wir uns dagegen nach wahrer Freiheit sehnen, sehnen wir uns nach einer Gesellschaft, die es uns erlaubt jede Arbeit zum Spiel werden zu lassen.
Arbeit wird zur künstlerischen Äusserung und damit zum kreativen Bedürfnis.
Das ist der großartige Kern jener Utopie, die uns aus der „Deutschen Ideologie“ entgegen strahlt.
Und dass ist auch der entscheinde Unterschied zu Epikur:
Das Leben soll nicht nur lustvoll genossen, sondern aktiv gestaltet werden.
Wir sitzen nicht nur im Garten, wir freuen uns an der Gartenarbeit.